Leitl: "Das russische Gas war das billigste und zuverlässigste"
Am 9. Juni wählt Europa ein neues Parlament. Christoph Leitl war ein „früher“ Europäer. Bereits als 16-Jähriger hat er am Linzer Fadinger-Gymnasium den Europaklub Linz gegründet. Als Vorsitzender der Jungen Industrie Österreich trat er beim Bundestag 1986 für den EU-Beitritt Österreichs ein. Von 2018 bis 2021 war er Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer.
Soeben ist sein Buch „Europa und ich – eine politische und persönliche Zeitreise“ (ecoWing-Verlag) erschienen. Leitl, der Ende März seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, war von 1985 bis 1990 Abgeordneter zum Landtag, von 1990 bis 1995 Wirtschaftslandesrat, von 1995 bis 2000 Landeshauptmannstellvertreter und von 2000 bis 2018 Präsident der Wirtschaftskammer Österreich.
KURIER: Wie geht es Ihnen zum 75er?
Christoph Leitl: Ich bin zufrieden, man muss im Leben immer zufrieden sein. Jeder hat sein Binkerl zu tragen. Keiner kommt aus.
Was ist Ihr Binkerl? Die Pflege Ihrer Frau?
Ich sehe das nicht als Verpflichtung oder Aufgabe, sondern als freudvolle Begleitung. Freudvoll deswegen, weil man sich an dem erfreut, was immer noch an Gemeinsamkeit möglich ist. Eine dankbare Erinnerung daran, was wir auf unserem 50-jährigen gemeinsamen Weg erlebt haben, eine großartige Familie, unternehmerisch ein bisserl etwas geschaffen, Freude an der Natur im Mühlviertel.
Ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für Sie eine Enttäuschung? Der Green Deal, das Verbrennerverbot und das Lieferkettengesetz werden von Wirtschaft und Industrie massiv kritisiert.
Ja und nein. Ja deswegen, weil sie im Standortwettbewerb sehr viel übersehen hat. Die Amerikaner haben uns in gewissen Bereichen überholt, die Chinesen sind in der Künstlichen Intelligenz und in Bereichen der Öko-Industrie vor uns (Solarpaneele, E-Autos). Statt technologieoffen zu sein, haben wir uns hier verengt.
Von der Leyen kann nur das tun, wo sie die Übereinstimmung der 27 Mitglieder hat. Aufgrund des Vetorechts blockieren sie oft. Was man häufig der EU vorwirft, müsste man einzelnen Mitgliedern vorhalten, die unter nationalistischem Druck in ihrer Heimat stehen. Sie greifen aus innenpolitischen Gründen zur Vetokeule, was dem Projekt Europa schadet.
Braucht es eine Änderung an der Spitze der EU-Kommission?
Ich maße mir nicht an, eine Veränderung zu bewerkstelligen. Angesichts von 75 Jahren Europarat können wir stolz auf Europa sein. Wenn wir in 25 Jahren gegen die egoistischen Amerikaner und gegen die kollektivistischen Asiaten ein Leiberl haben wollen, müssen wir gewisse Hemmnisse wie das Einstimmigkeitsprinzip und die damit verbundenen Blockaden überwinden.
Wie soll Europa mit der Offensive der Chinesen auf den Weltmärkten umgehen? Da gibt es die einen wie Stefan Pierer, der sagt, China ist eine Realität, man sollte auch dort produzieren, wie er es mit seinen KTM-Motorrädern macht. Dann gibt es die anderen wie Elisabeth Engelbrechtsmüller-Strauß von Fronius, die die staatliche Subventionierung von chinesischen Wechselrichtern beklagt, die ihre Produktion in Sattledt ruiniert. Sie fordert Maßnahmen der EU gegen diese Verletzung der Regeln der Welthandelsorganisation WTO.
Beide Ansichten finden meine Unterstützung. Die USA und China steuern auf einen Megakonflikt zu. Wenn nun Sanktionen wie Strafzölle verhängt werden, die den Handelsverkehr beeinträchtigen, besteht die Gefahr, dass Unternehmen wie das von Pierer über Nacht ohne Absatzmarkt dastehen. Es gibt weltweit, auch im Rahmen der WTO, Anti-Dumping-Verfahren. Wenn Dumping nachgewiesen wird, soll das sanktioniert werden. Es soll das die WTO beurteilen und nicht Europa eigenständig.
Bis es hier zu Entscheidungen kommt, ist die Wechselrichterproduktion von Fronius ruiniert.
Dann muss man eine Vorwegentscheidung treffen, sich aber an die Entscheidungen der WTO binden. Sonst erweckt man den Eindruck, dass man protektionistisch ist.
Sie sind also gegen Strafzölle gegen China?
Ich bin dann für Strafzölle, wenn Dumping nachgewiesen wird.
Die EU will nun mit Strafzöllen gegen die chinesischen E-Autos vorgehen.
Wenn sie staatlich subventioniert sind, muss man sich wehren.
Sie haben die EU-Sanktionen gegen Russland wegen der Besetzung derKrim abgelehnt. War das nicht eine Fehlentscheidung angesichts des Angriffskrieges gegen die Ukraine?
Ich habe mich bis zum Februar 2022 mithilfe der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur für enge Beziehungen mit Russland eingesetzt, um den Frieden zu garantieren. Das ist nicht gelungen. Jetzt haben wir den Krieg, der auch uns ganz massiv schadet. Was mir fehlt, ist, dass es eine dritte Phase geben muss, wo man wieder miteinander eine nachhaltige Friedensordnung schafft, und nicht nur einen Waffenstillstand. Das ist unsere Aufgabe, ihr kommen wir derzeit nicht nach.
Ihrer Meinung nach liegt das an den Europäern. Oder liegt es an Russland?
Eine solche Pendelmission sollte von beiden kommen. Von den Europäern könnten das Jean-Claude Juncker oder Heinz Fischer oder Benita Ferrero-Waldner machen. Hat es jemand versucht? Juncker wäre dazu bereit, aber er bekommt keinen Auftrag.
Es hat mehrere erfolglose Versuche gegeben. Von den Kanzlern Scholz und Nehammer, es hat die Schweiz eingeladen. Alles wurde von den Russen abgelehnt.
Bis jetzt hat jede Seite ihre Maximalforderungen wiederholt.
Sollte die Ukraine auf Gebiete verzichten?
Das zu beurteilen ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist, überhaupt einen Dialog in Gang zu bringen. Mit dem Ziel einer nachhaltigen Friedensordnung. Ob das nun eine Neutralität oder ein Modell Südtirol mit einer Autonomie für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ist.
Österreich ist weiter stark von russischem Gas abhängig und finanziert damit indirekt Russlands Kriegsführung. War hier die Wirtschaft in der Vergangenheit nicht zu blauäugig?
Das russische Gas war das billigste und zuverlässigste.
Einseitige Abhängigkeiten sind ein Fehler, wie sich wieder einmal herausgestellt hat.
Nachher ist man immer g’scheiter. Der Vorwurf der einseitigen Abhängigkeit ist gerechtfertigt.
Waren Sie persönlich gegenüber Putin nicht auch zu blauäugig?
Heute wird Chinas Präsident Xi Jinping in Ehren empfangen. Wenn er morgen etwas gegen Taiwan unternimmt und er weltweit geächtet wird, haben wir dann einen Fehler gemacht, weil wir mit ihm geredet haben? Auch der türkische Präsident Erdoğan hat Dutzende Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in seinen Kellern. Sollten wir deswegen nicht mehr mit ihm reden oder keine Geschäfte mehr machen? Rückblickend ist es einfach, Schuldzuweisungen zu machen. Blauäugig, was ist das? Wir haben immer die Pflicht zum Dialog.
Warum ist die europäische Wirtschaft im Vergleich zu den USA und China so in die Defensive geraten?
Es ist uns noch nicht gelungen, einen europäischen Binnenmarkt zu bewerkstelligen und mit anderen Kontinenten Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturabkommen abzuschließen. Bestes Beispiel ist das Abkommen der EU mit Kanada (CETA). Was wurde damals geschimpft? Jetzt haben wir die Ergebnisse. Österreich hat seinen Außenhandel mit Kanada um 30 Prozent gesteigert und keine der Befürchtungen ist eingetreten.
Dieselben Leute sind heute gegen das Abkommen Mercosur mit Lateinamerika. Die Chinesen stehen dort vor der Tür und wir Europäer halten die Türen zu. Das ist ein schwerer Fehler. Wir müssen mit allen Teilen der Welt, China inklusive, gute und faire Abkommen schließen.
Wirtschaft und Industrie klagen über hohe Lohnkosten und hohe Energiepreise.
Die Energiekosten resultieren aus dem Fehlen eines europäischen Energiemarktes. Wir brauchen ihn ebenso dringend wie einen europäischen Kapitalmarkt, damit die Start-ups Zugang zu Mitteln haben, die sie in Amerika selbstverständlich und auch in China haben.
Der Staat ist ein Krisengewinner. Bei drei Prozent Lohnerhöhung kassiert er die Hälfte, also eineinhalb Prozent. Es braucht Steuersenkungen. Auch bei der Mineralölsteuer. Jetzt kostet der Sprit 1,60 Euro. Warum gibt der Staat nicht 30 Cent weiter an die Konsumenten? Warum kann man nicht eine zweieinhalbprozentige Lohnnebenkostensenkung auf der Arbeitnehmerseite machen?
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