Christoph Leitl: "Wir Österreicher sind etwas nachdenkfaul"
Christoph Leitl, Ex-Präsident der Wirtschaftskammer, wurde vom Fachverband der Pensions- und Vorsorgekassen für seine Verdienste um die staatliche Pensionsvorsorge geehrt. Im Gespräch mit Verbandsobmann Andreas Zakostelsky (beide ÖVP) spricht er über nötige Pensionsreformen und sein vielkritisiertes Naheverhältnis zu Wladimir Putin.
Herr Leitl, genießen Sie die Pension?
Christoph Leitl: Was ist das?
Sie wurden geehrt, weil das Parlament vor 22 Jahren die „Abfertigung Neu“ beschlossen hat. War das so ein großer Wurf, dass eine Ehrenmedaille berechtigt ist?
Leitl: Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe damals mit Gewerkschaft und Arbeiterkammer Gesprächsrunden über eine faire Lösung geführt. Vor der Regelung sind 15 Prozent der Beschäftigten in den Genuss einer Abfertigung gekommen, wir haben daraus 100 Prozent gemacht.
Andreas Zakostelsky: Das war eine Demokratisierung des Abfertigungsthemas. Alleine im vergangenen Jahr haben die heimischen Betriebe 2,2 Milliarden Euro für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingezahlt.
Dennoch gibt es nach wie vor die Grundsatzkritik, dass die betriebliche Vorsorge in Österreich nicht stark genug ausgebaut ist. Was muss sich ändern?
Leitl: Was mir an der Abfertigung Neu nicht gefällt, habe ich damals schon meinen Verhandlungspartnern gesagt. Sie wollten eine Kapitalgarantie und dass nach drei Jahren die Auszahlung der Abfertigung möglich ist. Das waren Schüsse ins Knie.
Zakostelsky: Es gibt das Gegenargument, dass es einem Arbeitslosen akut nicht hilft, wenn das Geld am Pensionskonto landet. Ganz einfache Lösung: Es gehört definiert, dass man in Notfällen wie der Arbeitslosigkeit das Geld von mir aus auch jederzeit herausnehmen kann, für alle anderen Menschen ist es aber sinnvoller, dass das Geld bis zum Pensionsantritt liegen bleibt, das muss im Gegenzug ebenfalls fixiert werden.
Sie würden nachjustieren, Herr Leitl?
Leitl: Ich hätte es damals schon vorgeschlagen. Ich habe es seitdem wiederholt, alle Experten haben mir rechtgegeben, aber es ist Sache der Arbeitnehmer.
Sie gilt für Arbeitsverhältnisse, die nach 2002 begonnen haben. Es handelt sich um ein Entgelt, das Dienstnehmer nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses erhalten. Der Arbeitgeber zahlt ab dem zweiten Monat der Beschäftigung 1,53 Prozent des monatlichen Entgelts auf ein Vorsorgekonto. Nach mindestens drei Einzahlungsjahren können Arbeitnehmer die Auszahlung verlangen, insofern sie nicht gekündigt oder die Kündigung verschuldet haben – in diesem Fall wird das Geld weiter veranlagt. Man kann die Abfertigung auch bewusst bis zum Pensionsantritt weiter veranlagen lassen. Die Abfertigung Alt war höher, dafür erhielten sie statt 100 nur rund 15 Prozent der Beschäftigten.
Was halten Sie von einer stärkeren Verschränkung der drei Säulen?
Zakostelsky: Das ist das zentrale Thema. In Österreich gibt es keine Kommission, die sich mit dem gesamten Pensionssystem auseinandersetzt. Die Alterssicherungskommission ist gesetzlich nur für die staatliche Säule zuständig. Ihren Auftrag sollte man auf die betriebliche und private Säule erweitern. Jede Säule hat Stärken, die gehören gesamthaft betrachtet und je nach Bedarf kombiniert. Hier muss etwas geschehen. Der Staat kann dem System nicht noch mehr zuschießen.
Leitl: Das Thema wird in den nächsten Jahren ohnehin aufpoppen, da muss ich kein großer Prophet sein. Wenn jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen und nur noch wenige Junge nachkommen, gerät das klassische Umlageverfahren unter Druck. Dann werden die zweite und dritte Säule an Bedeutung gewinnen und die Überlegungen des Obmanns sehr, sehr aktuell sein.
Ihre Partei, die ÖVP, hat immerhin einen Österreichplan bis 2030 vorgelegt. Das Kapitel Pensionen kommt nur ganz kurz vor.
Leitl: Das Thema wird in Österreich traditionell gemieden. Die einen sagen, Pensionen sind absolut sicher, die anderen reden nicht darüber. Dann gibt es eine dritte Gruppe, die Lösungen vorschlägt.
Zakostelsky: Es wäre an der Zeit, sich auf das Regierungsprogramm zu besinnen. Dort kommt nicht nur der Ausbau der zweiten und dritten Säule vor, sondern auch eine Pensions-App, damit die Bevölkerung eine bessere Übersicht bekommt.
Leitl: Mir fehlt auch die Kreativität, die darin besteht, Menschen freiwillig länger arbeiten zu lassen. In Skandinavien hat sich das bewährt. Warum gilt in Österreich eine enge Zuverdienstgrenze für jene, die über das Pensionsalter hinaus arbeiten? Machen wir das doch auf. Wo sind diese Ideen?
Zakostelsky: Das zieht sich leider über die letzten 15, 20 Jahre. Die Politik betrachtet die Pensionen als heißes Eisen. Dabei gäbe es total positive Botschaften. Warum stellt sich kein Politiker hin und sagt, wir sorgen dafür, damit jeder von euch eine Zusatzpension bekommt? Um das 3-Säulenmodell gesamthaft zu verstehen, muss man sich eben zumindest eine Stunde mit dem Thema auseinandersetzen. An dieser Stunde mangelt es anscheinend.
Welcher politischen Kraft trauen Sie eine große Reform des Pensionssystems zu?
Zakostelsky: Politikern eines Zuschnitts von Christoph Leitl, der immer Vordenker und Vorbild in Bezug auf Mut war. Und das gilt unabhängig parteipolitischer Präferenzen.
Wer wäre das in der aktuellen ÖVP?
Leitl: Ich mische mich nicht mehr in die Innenpolitik ein, aber ich habe europäische Erfahrung. Warum schaffen es die Schweden? Weil sie Wahlfreiheit und Einzelentscheidung mit dem System kombinieren. Wenn ein 65-Jähriger länger arbeiten will, kriegt er eine viel höhere Pension. Wir Österreicher sind hier einfach ein bisschen nachdenkfaul.
Zakostelsky: Weiterer Vorschlag: grüne Pensionen. Wer selbst vorsorgt und in ein grünes Produkt investiert, erhält eine Prämie. Das verhindert Altersarmut, nützt dem Klima und der nachhaltigen Industrie. Wir Vorsorgekassen haben dem Finanzministerium und dem Klimaministerium ein Konzept vorgelegt. Das Echo, vielleicht liegt das an meinem Gehör, war noch nicht wirklich vernehmbar.
Themenwechsel: Herr Leitl, Sie haben lange Zeit als Putin-Versteher gegolten, ihn einen Tag vor dem Angriff auf die Ukrainer als „genialen politischen Schachspieler“ bezeichnet. Warum haben Sie nie kritische Distanz zu Russland gewahrt?
Leitl: Ich habe mich immer echt und ehrlich um Frieden bemüht und die Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur als Friedensinstrument gesehen. Ab 24. Februar 2022 war es anders. Man muss aber sehen, dass der Entfremdungsprozess mit Michail Gorbatschow begonnen hat. Den haben wir im Regen stehen lassen. Der hätte Russland in die europäische Familie und die Demokratie geführt.
Sind Sie nach wie vor für eine Aufhebung der Russland-Sanktionen?
Leitl: Ich habe immer gesagt, Sanktionen schaden allen. Das hat sich bewiesen. Ich bin nicht dafür, dass man einseitig abrüstet, weil dann gewinnt der Putin. Die Doppelstrategie heißt: volle Unterstützung der Ukraine und Öffnung der Verhandlungskanäle.
Haben Sie persönlich noch einen Draht zu Putin?
Leitl: Nein.
Wären Sie heute noch Wirtschaftskammer-Präsident …
Leitl: Das ist eine theoretische Frage. Wir haben einen Wirtschaftskammer-Präsidenten. Der heißt Mahrer und nicht Leitl.
…. würden Sie den Ausstieg aus russischem Gas zumindest vorschlagen?
Leitl: Ich kenne die Verträge nicht, ich kenne die Umstände nicht. Das ist ein Thema Österreichs. Auf europäischer Ebene würde mir eine gemeinsame Einkaufspolitik von ganz Europa gefallen. Das würde unsere Verhandlungsposition stärken und Umgehungsgeschäfte reduzieren. Und da ist wieder mal Kreativität und Phantasie gefragt.
Christoph Leitl
Der 74-jährige Politiker fungierte von 2000 bis 2018 als Präsident der Wirtschaftskammer. Zudem war er rund sechs Jahre Präsident der Europäischen Wirtschaftskammern. Im September 1979 entkam Leitl nur knapp einem Entführungsversuch der linken Terrorgruppe RAF. Am 21. März erscheint sein neues Buch „Europa und ich“.
Andreas Zakostelsky
Der ÖVP-Politiker wurde 1962 in Sidney (Australien) geboren und übersiedelte 1970 nach Graz. Seit 2010 ist Zakostelsky Obmann des Fachverbandes der Pensionskassen der WKO. Seit 2016 ist er Generaldirektor der für betriebliche Altersvorsorge zuständigen VBV-Gruppe.
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