„Der Traum vom gelungenen Selbst“

Merl: „Menschen haben ein genaues Bild von sich selbst, wie sie sind, wenn sie gesund sind“
Harry Merl. Das Linzer Theater Tribüne zeigt derzeit Szenen aus der Verfolgung des jüdischen Kindes Merl in der Nazizeit. Merl wurde als Mediziner der Begründer der österreichischen Familientherapie und arbeitete im Linzer Wagner-Jauregg-Krankenhaus.

Harry Merl leitete 17 Jahr e das Institut für Psychotherapie am Linzer Wagner-Jauregg-Krankenhaus. Der 84-Jährige ist Dozent für Psychotherapie an der Universität Wien und unterrichtete in Salzburg, Graz und an der Universität Klagenfurt Systemische Einzel- und Familientherapie. Merl hat mit seiner Frau fünf Kinder, die alle Mediziner geworden sind

Merl wurde als jüdisches Kind verfolgt. Seine Eltern und er versteckten sich in Kohlenkellern in Wien und konnten so den Vernichtungstransporten der Nazis-Transporten in das Konzentrationslager Auschwitz entkommen. Im Theater Tribüne Linz gibt Johannes Neuhauser die Kindheitserlebnisse Merls in einer szenischen Lesung wieder. Das Theaterprojekt mit Bettina Buchholz in der Hauptrolle hatte gestern Abend Premiere.

KURIER: Wie sind Sie zur Familientherapie gestoßen?

Harry Merl: Die Familientherapie hat es 1962 in meiner Zeit als Arzt an der Psychiatrie in Mauer-Öhling nicht gegeben. Mein Lehrer Raul Schindler, der Dozent an der Klinik war, hat mich dazu animiert. In Amerika hat es dazu Literatur in der Psychoanalyse gegeben, aber diese eignete sich nicht für Familientherapie. Familientherapie heißt, dass man in der Familie etwas bewegen muss. Einmal in der Woche kam ich ins Wagner-Jauregg-Krankenhaus, um Psychotherapien zu machen. Das war damals ein Fremdwort. Einer der Patienten war der Sohn einer größeren Firma in Steyr. Eines Tages kam er nicht mehr zur Gruppentherapie. Sein Bruder erzählte mir, dass er sich zu Hause aufgebahrt, Kerzen an seinem Kopf angezündet hat und so getan hat, als sei er tot. Ich habe daran gesehen, dass das, was ich bisher gemacht hatte, nicht ausreicht. Dieser Sohn hätte eigentlich der Firmennachfolger sein sollen, aber er ist es nicht geworden. Sein älterer Bruder, der aufgrund eines Unfalls eine Querschnittslähmung gehabt hat, hat dann doch die Firma übernommen, obwohl er nach dem Unfall nicht mehr dafür vorgesehen war. Der andere Sohn ist ausgeschaltet worden.

Ich habe dann im Wagner-Jauregg begonnen, mit Familien zu reden, um zu schauen, was ich bewegen kann. Ich habe dann Familientherapie unterrichtet. Ich habe mich gefragt, was muss ich tun, damit Menschen anfangen, sich zu verändern.

Was ist Ihre Grunderkenntnis?

Eine Familie ist ein System, das sowohl nach außen als auch nach innen verzweigt ist. Die Menschen versuchen in diesem System, ihr Leben so gut es geht zu leben. Manchmal ist das verletzend oder es tut nicht gut. Man muss in diesem Fall helfen, damit sich die Menschen öffnen. Sowohl die Patienten als auch die Eltern oder andere wie die Geschwister. Denn diese fühlen sich meist gegenüber dem Patienten sehr schuldig.

Man muss schauen, dass sie durch die Schuldgefühle nicht blockiert sind und sich nicht vorwerfen, was sie denn alles falsch gemacht haben. Sie müssen sich angenommen fühlen und spüren, dass sie respektvoll behandelt werden.

Meist fügen die Familienmitglieder sich ja nicht absichtlich Verletzungen zu, obwohl es das es natürlich auch gibt.

Natürlich. In der Regel entsteht es. Der Patient ist das Symptom, dass etwas im System Familie nicht stimmt. Daher ist es wichtig zu schauen, was hat ihn zum Symptom gemacht. Ich hatte den Fall einer Bauersfamilie, wo alle Kinder studieren und keiner den Hof übernehmen wollte. Das war aber den Eltern wichtig.

Derjenige, der den Hof übernommen hat, ist psychotisch geworden. Das war dramatisch, denn er hat in seiner Wut Tiere erschlagen. Er hatte eine große Wut, dass er nicht studieren durfte, aber er hat nie darüber geredet.

Gibt es für ein gesundes Familienleben Grundsätze allgemeiner Natur?

Es ist fast banal. Mir ist klar geworden, dass Menschen die Sehnsucht haben heranwachsen und etwas schaffen zu können. Ich habe das den Traum vom gelungenen Selbst genannt. Menschen haben ein genaues Bild von sich selbst, wie sie sind, wenn sie gesund sind. Natürlich gibt es Hindernisse am Weg dazu, aber man kann sie dadurch besser erfassen.

Mit diesem Wissen ist es möglich, dass man sich auf die Seele verlassen kann, dass sie jeden Weg sucht, um diesen Traum zu verwirklichen. Menschen wachsen, lernen und machen Erfahrungen. Welche Erfahrungen gibt es, die den Menschen helfen zu sagen, ich bin wer und ich kann was? Die Grundregel ist, dass man darauf achtet, dass die Menschen diesen Traum erreichen können. Und das möglichst mit der Unterstützung der Familie. Die anderen sollen den Betreffenden bestätigen, dass er wichtig ist und dass er etwas kann. Die Verwicklungen sind ja so, dass es nicht nur um den Beruf geht, sondern das zum Beispiel in der Ehe zwischen Mann und Frau eine große Kluft entsteht. Sodass die Söhne sich für die Mütter verantwortlich fühlen.

Das ist schlecht?

Das ist schlecht. Denn diese Verantwortlichkeit ist sehr schwer. Die Mutter klagt dem Sohn ihr Leid. Das ist ganz schwer zu lösen, denn es erfordert, dass das Paar miteinander ins Gespräch kommt. Dass die Traurigkeit und die Enttäuschung einmal ausgesprochen werden. Und dass die Eltern die Söhne freigeben.

Die Eltern leiden umgekehrt auch unter der Krankheit eines Sohnes.

Heute lassen sich viele Paare scheiden.

Es kommt immer darauf an, was die Menschen mit der Scheidung machen. Es gibt Familien, bei denen die Scheidung durch fortgesetzte Feindseligkeit der Eltern geprägt ist. Das führt dazu, dass sich die Söhne neuerlich verantwortlich fühlen. Die Verletztheit der Menschen im Umgang der Menschen untereinander wiederholt sich oft. Diese Verletztheit muss man sehr behutsam aufdecken. Es fehlt oft die gegenseitige Anerkennung für das, was man ist und was man kann.

Letztlich geht es um Anerkennung und Zuspruch. Man könnte auch Liebe dazu sagen.

Es ist mir klar geworden, dass die Liebe das oberste Heilmittel ist. Im Sinn einer Humanökologie. So wie man miteinander umgeht. Jede Botschaft von mir an Sie und von Ihnen zu mir wird bewertet: War das gut, war das freundlich? Muss ich mich fürchten vor ihm? Das ist alles Teil der Ökologie des Menschen. Es ist ähnlich wie bei den Pflanzen. Mit ihnen kann man auch reden den. Auch sie spüren das Wohlwollen.

Was ist Seele für Sie?

In der Arbeit des Gehirns entstehen Verhaltens- und Lebensmuster. Es entsteht eine Metaorganisation, die nicht beobachtbar ist. Aus den Beziehungen der Zellen entstehen quasi Energiewolken, in denen diese Abläufe Wirkungen haben. Man sieht die Gefühle nicht, aber man fühlt es, was geschieht. Die Seele ist nicht sichtbar, sie ist eine Organisation, die sich aus den Wirkungen des Wechselspiels ergibt.

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