Justizminister Brandstetter auf Blitzvisite in Stein

Lokalaugenschein des Justizministers in Krems-Stein.
Nach dem Skandal um einen verwahrlosten Häftling sagt Wolfgang Brandstetter mehr Personal zu.

Für Kosmetik blieb keine Zeit mehr. Bei seiner überraschenden Häfenvisite erlebte Justizminister Wolfgang Brandstetter die Strafanstalt Stein am Donnerstag ungeschminkt. "Herr Bundesminister, melde zwölf Insassen ohne besondere Vorkommnisse": Gute 20-mal salutiert ein Abteilungskommandant vor dem hohen Besuch und betet schnarrend sein Sprücherl herunter, wenn sich die nächste Eisentür geöffnet und wieder geschlossen hat.

Die vom KURIER begleitete Visite führt teils durch gähnend leere Werkstätten, weil zu wenig Justizwachebeamte (Schichtdienst, Ersatzruhetage) im Dienst sind, um die Häftlinge zu bewachen und anzuleiten; die sitzen den ganzen Tag in den Zellen oder Gruppenräumen.

Justizminister Brandstetter auf Blitzvisite in Stein
Besuch Justiziminister Brandstetter in Justizanstalt Stein
Überwachung ist zum Beispiel in der Schlosserei ganz wichtig. Eine heikle Abteilung, weil sich die Häftlinge hier nicht nur die Gitter für ihre Zellenfenster selbst schmieden, sondern auch Schlüssel nachmachen können. Von den 286 Beamten für 819 Häftlinge, darunter 111 geistig abnorme Täter im Maßnahmenvollzug, sind im Schnitt 142 im Dienst. 180 würde man brauchen, um alle Insassen sinnvoll zu beschäftigen, zu betreuen, zu therapieren, sagt der stellvertretende Anstaltsleiter Johann Deißenberger.

Privatsphäre

Derzeit fehlen noch weitere drei Beamte. Sie wurden suspendiert, nachdem der Falter den Fall des verwahrlosten Häftlings Wilhelm S. aufgedeckt hat. Der 74-Jährige, der mit eingerollten Zehennägeln und Geschwüren an den Beinen entdeckt worden war, befindet sich jetzt auf der Krankenabteilung. Es geht ihm gut, wird Brandstetter mitgeteilt. Extra aufsuchen will der Minister den geistig abnormen Häftling nicht, um dessen Privatsphäre nicht zu verletzen: "Ich will das nicht voyeuristisch ausschlachten, so etwas mache ich nicht."

Justizminister Brandstetter auf Blitzvisite in Stein
Besuch Justiziminister Brandstetter in Justizanstalt Stein
Sehr wohl aber will sich der Minister persönlich "die Brennpunkte anschauen, wo man etwas tun muss". Zum Beispiel: Dass nur eine Psychiaterin acht Stunden in der Woche anwesend ist, im Bedarfsfall kommt für ein paar Stunden eine Kollegin dazu. Dabei landen früher oder später die aggressivsten und gefährlichsten Gefangenen in Stein, etwa auch 120 besonders schwierige Drogenabhängige, die nun substituiert sind (Ersatzmedikation im Entzug). "Die können einem schon ganz schön was anschauen lassen", sagt ein Beamter, und seien auch nicht leicht zu therapieren: "Handauflegen und gut ist es, das spielen’s halt nicht."

Wer zum praktischen Anstaltsarzt will, wird vorgeführt, aber auf ein ausführliches Gespräch muss man Wochen warten. Da hört man beim Lokalaugenschein durch eine geschlossene Eisentür Gebrüll und Pumpern. "Was ist da los?", fragt der Minister. Drei Häftlingen dauert die Wartezeit auf den Arzt zu lang. In Freiheit sitze man auch ein paar Stunden im Wartezimmer, meint ein Justizbeamter.

Justizminister Brandstetter auf Blitzvisite in Stein
Besuch Justiziminister Brandstetter in Justizanstalt Stein
Als Sofortmaßnahme nach Auffliegen des Skandals um den vergessenen Insassen wurden zusätzlich monatliche Häfenvisiten durch den Arzt und Vorführungen beim Psychiater alle drei Monate angeordnet.

Diese Intervalle sind dem Minister zu lang. Er sagt spontan einen zusätzlichen Psychiater für 10 bis 20 Wochenstunden und einen Teil der 100 neuen Justizwache-Planstellen für Stein zu. Langfristig will er den Maßnahmenvollzug reformieren, bis hin zu einer eigenständigen neuen Anstalt.

Stein habe keinen schlechten Eindruck auf ihn gemacht, sagt Brandstetter: "Und es ist uns auch nicht egal, wie es den Beamten geht."

Zwei Faktoren erschweren die Gesundheitsbetreuung von Gefangenen in Österreich: Einerseits die Altersstruktur, andererseits der Ärztemangel.
Der 74-jährige Insasse der Justizanstalt Stein, der sich nicht behandeln lassen wollte, ist nicht der Einzige im Seniorenalter. Derzeit befinden sich 350 Personen in den insgesamt 27 Gefängnissen, die ihren 60. Geburtstag teilweise schon weit hinter sich haben. 68 sind älter als 70 Jahre, sieben sogar älter als 80 Jahre. Der älteste Gefangene ist 85.

Damit sei die Zahl der Senioren bereits weit größer als die der Jugendlichen in Justizanstalten, erklärte Christian Timm, stellvertretender Leiter der Vollzugsdirektion. Eigentlich bräuchte es schon eine spezielle Einrichtung für die Betagten, wie es sie in Deutschland bereits gibt. In Österreich ist so etwas vorerst nicht geplant.

Bedarf

Ältere Gefangene haben allerdings auch einen wachsenden Bedarf an medizinischer Versorgung. In jeder Anstalt gibt es bereits eine Krankenpflegerin. In der Justizanstalt Suben laufe derzeit ein auf diese Gruppe ausgerichtetes Pilotprojekt, erklärt Timm: "Wir können aber schon jetzt aus Kostengründen den Vollzug nicht so durchführen, wie wir uns das vorstellen." Der Tagessatz in Österreich sei pro Gefangenem 108 Euro. Die Niederlande würden 256 Euro ausgeben.

Indes stellt sich die FPÖ hinter den – suspendierten – verantwortlichen Abteilungskommandanten in der Strafanstalt Stein, Roman Söllner. Er ist auch FP-Kandidat für das EU-Parlament. Für FP-Sprecher Martin Glier ist das "klassische Opfer-Täter-Umkehr". Söllner werde zum Sündenbock gemacht.

Der Skandal um den vergessenen Häftling in einer Zelle der Justizanstalt Stein, bei dem sich schon die Zehennägel einrollten, ist ein Fall für den Staatsanwalt und für die Volksanwaltschaft. Drei Justizwachebeamte wurden am Mittwoch suspendiert. Justizminister Wolfgang Brandstetter ist „zornig“ (siehe unten), er zieht eine für Herbst geplante Reform vor.

Wie der Falter aufdeckt, dürfte sich monatelang niemand um den 74-jährigen geistig abnormen Wilhelm S. gekümmert haben, der wegen versuchten Mordes seit 1995 inhaftiert ist. Seine mit Geschwüren übersäten Beine waren unter Verbänden verborgen. Er selbst gab gegenüber der Polizei an, auf mehrmalige Fragen der Justizwache den Gang zum Arzt abgelehnt zu haben. Das befreit die Betreuer freilich nicht von ihrer „besonderen Fürsorgepflicht, gerade dann, wenn man den Betreffenden als geistig abnorm einstuft“, sagt der langjährige Gefängnischef und Leiter der Strafvollzugsakademie, Wolfgang Gratz. Er hält den Vorfall für „die Spitze eines Eisberges“. Es liege hier ein wochenlanges „systematisches Wegschauen“ vor.

Laut dem Kremser Staatsanwalt Franz Hütter wird wegen des Verdachts der Vernachlässigung ermittelt: „Die Vernachlässigung eines Gefangenen ist ein Paragraf, der sehr selten zur Anwendung kommt.“ Die Strafe hängt von den Folgen ab, kann bis zu fünf Jahre Haft reichen. Zuerst müssen aber medizinische Gutachten in Auftrag gegeben werden.

„Aufdecker“

Einer der drei suspendierten Justizbeamten, der zuständige Abteilungskommandant in Stein, Roman Söllner, stellt sich im Gespräch mit dem KURIER als Aufdecker dar: „Zum laufenden Verfahren kann ich nichts sagen. Die Polizei hat mich dazu einvernommen. Die Darstellung ist äußerst einseitig. Denn eigentlich habe ich durch meine Meldung die Situation aufgedeckt.“ Aus der Sicht des Abteilungskommandanten wäre es auch heikel gewesen, einen Gefangenen „gewaltsam zur Körperpflege zu zwingen“. Söllner ist Personalvertreter der freiheitlichen Gewerkschaftsfraktion AUF und steht auf Platz 15 der EU-Liste.

Justizminister Brandstetter auf Blitzvisite in Stein
Roman Söllner Justiz Personalvertretung AUF FPÖ

Volksanwältin Gertrude Brinek (ÖVP) hat eine amtswegige Prüfung eingeleitet. Sie ortet ein „strukturelles Versagen: Da müssen mehrere weggeschaut haben.“ Bei den bisherigen drei Kontrollen der für die Überprüfung der Menschenrechte gebildeten Kommissionen in Stein wurden lediglich mangelhafte Durchlüftung, defekte Steckdosen und Lücken bei der medizinischen Betreuung in der Nacht beanstandet.

Als erste Sofortmaßnahme hat die Vollzugsdirektion eine monatliche (!) Häfenvisite durch den Anstaltsarzt sowie eine Vorführung der geistig auffälligen Häftlinge zum Psychiater alle drei Monate (!) verfügt.

Politische Reaktionen

Auch politische Reaktionen blieben nicht aus: Der Justizsprecher der Grünen, Albert Steinhauser, will einen Untersuchungsausschuss zur Überprüfung der Missstände in den Justizanstalten.

Hinter dem Skandal in Stein steht die Problematik des sogenannten Maßnahmenvollzuges. Immer mehr Täter werden zusätzlich zur Haftstrafe wegen einer attestierten Persönlichkeitsstörung zur unbegrenzten Anhaltung mit Therapie verurteilt und bleiben dort sich selbst überlassen. Zu oft, wie Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner kritisiert, weil man Tat und Störung gleichsetzt und annimmt: „Wer so was tut, muss krank sein.“ Und zu lang: Zu bloß einem Jahr Haft Verurteilte (etwa wegen gefährlicher Drohung) sitzen bis zu neun Jahre länger.

Experten schlagen vor, dass die Einweisung nur noch bei einer Anlasstat möglich ist, die mit mehr als zwei Jahren Haft geahndet wird (derzeit ein Jahr). Außerdem sollte die nur in Salzburg gern praktizierte bedingte Einweisung in ganz Österreich zum Tragen kommen. Das bedeutet, dass der geistig abnorme Täter nach der Tat vorläufig angehalten, psychiatrisch betreut, medikamentös eingestellt und dann für eine Probezeit unter Kontrolle entlassen wird. Dazu muss aber ein Gutachter die Gefährlichkeit als gering beurteilen.

„Es ist weltfremd, anzunehmen, dass man die Gefährlichkeit wegwaschen kann wie einen Fleck“, sagt Wolfgang Gratz: „Man kann das Verhalten in Freiheit nur erproben.“

Der KURIER hat vor 27 Jahren in der Justizanstalt Wien-Josefstadt das Mittelalter gefunden: Gefangene, die renitent waren, wurden in fensterlosen Räumen im Keller in Käfigbetten gesperrt. Die Käfige unterschieden sich kaum von denen im Zoo, sie waren zwei Meter lang, einen Meter hoch, einen Meter breit, man konnte darin nicht stehen, kaum sitzen, nur liegen. Im Justizministerium zeigte man sich fassungslos.

13 Jahre später stieß das Anti-Folter-Komitee des Europarates bei einem Kontrollbesuch auf dieselben Käfigbetten. Und wieder zeigte man sich im Justizministerium ganz erstaunt, man habe davon gar nichts gewusst.

Noch einmal 14 Jahre später ist der österreichische Strafvollzug vom Mittelalter offenbar noch immer nicht weit genug entfernt: Erst wenn Verwesungsgeruch aus einer Zelle strömt, kommt jemand nachschauen – und findet einen vergessenen Gefangenen mit verkrusteten Geschwüren und zentimeterlang aufgebogenen Zehennägeln wie bei einem Greifvogel.

„Moralische Abstumpfung“ nennt es Volksanwältin Gertrude Brinek. Ein Strafvollzugsexperte sagt, Teile der Justizwache würden heute noch dem „harten Lager“ und den „Fasttagen“ nachtrauern, die es früher für nicht angepasste Gefangene gab. Solange das Mittelalter in der Einstellung verankert ist, wird der Strafvollzug nicht im 21. Jahrhundert angekommen sein.

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