"Alle wollen zurück in die Ukraine"
„Meine Schwester lebt in Moskau. Die Kriegsereignisse in ihrer alten Heimat glaubt sie mir nicht und streitet sie ab.“ Der alleinstehende 69-jährige Bogdan R. floh vor russischen Bomben aus der Ukraine und landete in Österreich. In einem in Windeseile eingerichteten großen Quartier im niederösterreichischen Scheibbs lernt er schon emsig Deutsch. So bald es möglich ist, will Bogdan zurück in sein altes Zuhause.
Doch wann das sein könnte, getraut sich hier im Quartier Lehenhof niemand zu sagen. „Wir hatten schon acht Jahre Krieg, daheim gibt’s es Prognosen, dass nach zehn Jahren ein Ende sein wird. Aber wissen kann das niemand“, sagt Bogdan. Dolmetscherin Olga Metzinger übersetzen und bestätigt: „Alle wollen zurück in die Ukraine“.
Das ehemalige leer stehende private Jugendheim Lehenhof mit 2.000 Quadratmeter Nutzfläche am Rand der Bezirksstadt Scheibbs (4.100 Einwohner) wurde kurzerhand aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Als sich die Flüchtlingswelle aus der Ukraine Anfang März anbahnte, entwickelte sich die eilige Adaptierung des Gebäudekomplexes zu einer riesigen Solidaritätsaktion.
„Unbeschreiblich“
„Die Freiwilligkeit war und ist noch immer unbeschreiblich“, schildert Bürgermeister Franz Aigner. Feuerwehren, Vereine und Haushalte aus der Region reagierten blitzartig auf die Hilfs- und Spendenaufrufe. Binnen der ersten drei Tage wurden 80 Betten kostenlos angeliefert. Neue WC, Kühlgeräte, jede Menge Gewand und Schuhe. Sogar ein Klavier und vor allem Kinderspielzeug wurde gespendet, erzählen Sozialstadträtin Alena Fallmann und Christine Dünwald-Specht vom anfangs federführenden Verein „Brücke“. Mittlerweile hat die Stadtverwaltung die Trägerschaft und Vorfinanzierung des Heims übernommen. 67 Kriegsvertriebe, davon fünf Männer und ansonsten Frauen mit ihren Kindern, leben hier.
„Mit der Größe ist eine ständige Betreuung vorgeschrieben“, ist Stadtchef Aigner von Herzen froh, dass die sechs für die Organisation, das Dolmetschen und die Großküche engagierten Kräfte von derzeit 75 Freiwilligen unterstützt werden. Die Zahl der Vertriebenen könne noch bis rund 90 aufgestockt werden.
Von Anfang an mit im Boot ist auch der frühere Scheibbser Hausarzt Karl Exinger, der sich kurzerhand aus der Pension wieder in den Dienst stellte. „Ich versuche bei akuten Problemen zu helfen. Die Leute, die kommen, sind zum Glück gesundheitlich besser als befürchtet beisammen. Aber die Problempalette ist kunterbunt und ich versuche für physische und psychische Gesundheit da zu sein“, erzählt der Arzt.
Kinder
In einem der großen Säle im Haus, aber auch im sonnigen Innenhof des Lehenhofs sind es Stofftiere, Spielsachen und kleine bunte Kindergefährte, die als Stimmungsaufheller dienen und bei Kindern und besorgten Müttern für Abwechslung sorgen. Letztere haben die Handys stets griffbereit. Für ukrainisches Fernsehen und WLAN im Gebäude ist man sehr dankbar. So wie für die Rundum-Fürsorge. „Nach meiner Ankunft in Österreich musste ich ins Spital. Ich weiß nicht wo das war, aber ich möchte mich für die großartige Hilfe dort bedanken“, lässt die 39-jährige Tatjana M. ausrichten. Sie ist mit Tochter Julia aus Kharkiv geflohen. Ihr Mann, die Geschwister und die Mutter blieben dort.
Ein Anliegen an die Presse hat auch Olena Satsjuk (48) aus Kiew. „Ich suche nach meinem Sohn Valeri, den ich am 14. März in Lemberg zuletzt gesehen habe. Bitte melde dich bei mir“, bittet sie den verschollenen 24-Jährigen.
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