Dass er ein außergewöhnlicher Mann war, hat sie schon als Kind verstanden. „Er war der absolute Mittelpunkt der Familie, alles drehte sich um ihn, auch wir Kinder haben ihn angebetet“, erinnerte sich Sophie Freud im KURIER-Interview, als sie 2015 in Wien war. „Er hat nicht viel geredet, war schon alt und krank. Er hat uns nie geküsst, sondern immer nur in die Wange gezwickt, das war in seiner Art liebevoll.“
Im Mai 1938 hat Sophie Freud Wien mit Mutter und Bruder fluchtartig verlassen. „Mein Großvater“, erzählte sie, „wollte gar nicht auswandern, erst als seine Tochter Anna einen Tag bei der Gestapo verbringen musste, beschloss er wegzugehen.“ Während Freud nach London flüchtete, gelangte die Enkelin über Paris in die USA, wo sie Soziologie und Psychologie studierte.
Noch während des Studiums setzte sie sich differenziert mit Freuds Lehre auseinander, später wurde sie eine seiner prominentesten Kritikerinnen. „Ich finde den Kult um ihn übertrieben, ja fast lächerlich“, sagte Sophie Freud. „Wer kann sich denn ständig auf eine Couch legen und das viele Jahre lang. Es gibt 106 Arten von Therapie, das Gespräch ist wichtig, aber die Psychoanalyse ist ein Luxus, den sich kaum jemand leisten kann.“
Spielt bei Freud die Sexualität eine zentrale Rolle, so meinte Sophie, „dass der Sex schon wichtig ist, aber nicht lebensbestimmend“. Sie fragte sich, „ob er wirklich die sexuelle Freiheit geschaffen hat. Das Thema lag in der Luft, er hat es nur aufgegriffen.“
Auch die Bedeutung der Kindheit hätte er überschätzt, meinte sie. „Die Gene, die man erbt, sind viel wichtiger. Die Kindheit prägt, wenn sie besonders schlimm war, aber die normalen Fehler, die Eltern begehen, sind nicht so wichtig, das machen ja alle Eltern.“
Sie fand auch Positives. Man müsse Freud „als Mann seiner Zeit sehen, der heute einiges anders machen würde, man weiß ja viel mehr über das Gehirn als damals.“
Und Freud war ein liebevoller Großvater. An seinem 80. Geburtstag sagte Sophie ein Gedicht auf, doch statt „Dass Gott dich l a n g e leben lässt“ sagte sie: „Dass Gott dich e w i g leben lässt“. Großvater lachte. Es war, was wir heute eine Freudsche Fehlleistung nennen.
Sophie hatte ihn kettenrauchend in Erinnerung. „Er musste oft in seiner Mundhöhle operiert werden, doch kaum war er aus der Narkose erwacht, saß er wieder mit Zigarre in seinem Spitalsbett.“
Als er im Exil in London war und seine 14-jährige Enkelin in Paris, haben sie miteinander korrespondiert. „Mein liebes Sopherl“, schrieb er ihr am 1. Juli 1938, „Ja, Du fehlst mir auch sehr... Du wirst es gewiss leichter haben, Dich in der Fremde zu akklimatisieren als wir alten Leute.“
Sophie Freud unterrichtete mit über 90 Jahren noch in Boston und war bis zuletzt geistig rege. Sie verzweifelte an Donald Trump und fürchtete, dass er wieder kommt.
georg.markus
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