Auch damals herrschte Krieg
Tausende Soldaten waren tot. Abertausende lagen zerschossen und verwundet auf dem Schlachtfeld. Doch es fand sich weit und breit kein Mensch, der den Verletzten helfen konnte. Die Schlacht von Solferino war geschlagen, die Österreicher am Boden zerstört, Mailand und die Lombardei verloren. Solferino wurde aber auch zur persönlichen Niederlage für Kaiser Franz Joseph, der den Oberbefehl über seine Truppen übernommen hatte. Und doch brachte Solferino im Juni 1859 einen Sieg der Menschlichkeit, da die grausamen Geschehnisse zur Gründung des Roten Kreuzes, der größten humanitären Organisation der Welt, führten.
Der aus Genf stammende Kaufmann Henry Dunant war während einer Geschäftsreise zufällig Augenzeuge des blutigen Gemetzels von Solferino nahe des Gardasees geworden, bei dem 150.000 Österreicher einer Übermacht an Franzosen und Italienerin gegenüberstanden. „Da die Menschen fortfahren, sich gegenseitig zu töten, ohne sich zu hassen“, richtete der 31-jährige Dunant nach den schrecklichen Erlebnissen von Solferino einen dramatischen Appell an die Welt: „Wäre es nicht möglich, freiwillige Hilfsgemeinschaften zu gründen, deren Zweck es ist, die Verwundeten in Kriegszeiten zu pflegen?“
Einheitliches Zeichen
Von Anfang an dachte er an eine private Organisation, bei der weder Nationalität noch Rasse oder Religion eine Rolle spielen dürften. Die Helfer sollten durch „ein gut sichtbares, für alle Armeen einheitliches Zeichen“ international erkennbar sein: Schließlich wurde ein rotes Kreuz auf weißem Grund zum Symbol der Menschlichkeit (soweit das Wort „Menschlichkeit“ im Zusammenhang mit Krieg überhaupt erlaubt sein kann).
„Seit drei Tagen sehe ich in jeder Viertelstunde einen Menschen unter unvorstellbaren Qualen sterben“, schreibt Henry Dunant, „ein Schluck Wasser, eine Zigarre, ein freundliches Lächeln – und sie finden veränderte Wesen, die tapfer und ruhig die Todesstunde ertragen.“ Noch auf dem Schlachtfeld hatte sich Dunant unter Einsatz des eigenen Lebens bemüht, Ärzte und Sanitätspersonal aufzutreiben, um die Verwundeten wenigstens notdürftig versorgen zu können. Jedoch ohne nennenswerten Erfolg, hilflos musste er zusehen, wie Schwerverletzte qualvoll unter seinen Händen starben.
In 192 Ländern
Der wahrhaft große Mensch Henry Dunant hatte mit ungeheurem Engagement für die Verwirklichung seiner Idee gekämpft. Heute leisten elf Millionen Rotkreuz-Ärzte und -Helfer in 192 Ländern in Kriegen, aber auch nach Unfällen, Herzinfarkten und in anderen Notfällen Erste Hilfe, viele verdanken den Freiwilligen, die Tag und Nacht ohne finanzielle Entschädigung unterwegs sind, ihr Leben. Neben Rettungs- und Krankentransporten organisieren die Rotkreuzhelfer auch Blutspendedienste sowie Hilfe für die Opfer von Naturkatastrophen und Suchaktionen vermisster Personen.
Zuletzt kamen zu den „normalen“ Hilfsdiensten zwei leider aktuell gewordene hinzu: Die Covid-19-Pandemie erforderte allein in Österreich Tausende Impfungen sowie 28 Millionen Testungen. International sind im Ukrainekrieg zurzeit 11.500 Rotkreuzhelfer vor Ort, wobei bisher 2.700 Tonnen Hilfsgüter versandt wurden. Aus Österreich vor allem Wasser und Hygienepakete – viele davon durch unsere Leser, denn der KURIER kooperiert im Ukrainekrieg mit dem Roten Kreuz.
Die Idee Henry Dunants hat längst ihren Siegeszug angetreten, modernste Notarztwagen und Rettungshubschrauber haben die Pferdefuhrwerke der ersten Jahrzehnte abgelöst.
Seit 1867 in Österreich
Einen dem Roten Kreuz ähnlichen „Patriotischen Hilfsverein“ hatte es in der Monarchie bereits vor Solferino gegeben, doch war er mangelhaft organisiert und nach dem jeweiligen Kriegsende wieder aufgelöst worden. 1867 setzte sich die aus der Schweiz kommende Idee Henry Dunants auch hierzulande durch.
Wie wichtig sie ist, konnte spätestens während des Ersten Weltkriegs unter Beweis gestellt werden; Mehr als acht Millionen Verwundete wurden zwischen 1914 und 1918 von den Eisenbahn-Transportkolonnen des Roten Kreuzes befördert, in Sanitätsanstalten untergebracht und behandelt. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wurden die freiwilligen Helfer in das „Deutsche Rote Kreuz“ eingegliedert. Tausende Rotkreuzmitarbeiter, die in den beiden Weltkriegen an vorderster Front tätig waren, ließen ihr Leben, um andere zu retten.
Henry Dunant
wurde im Jahre 1901 mit dem weltweit ersten Friedensnobelpreis ausgezeichnet, doch geriet er sehr bald in Vergessenheit. Er hatte sein Leben einer großen Idee gewidmet und dafür so viel Zeit aufgewendet, dass er seine eigenen Geschäfte im Stich ließ und verarmte. Er starb am 30. Oktober 1910 einsam in einem Schweizer Altersheim. Hunderttausende Rotkreuzmänner und -frauen waren damals schon aufgrund seiner Initiative in aller Welt unterwegs, um zu helfen. Doch niemand war für ihn da.
Erst als Henry Dunant tot war, wurde sich die Welt seiner Leistungen bewusst.
georg.markus
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