Der Kaiser nahm an keiner einzigen Parlamentssitzung teil
Dass es ein Parlament gibt, weiß man erst zu schätzen, wenn man in Zeiten zurückblickt, in denen es keines gab. In Österreich begann der gesetzgebende Parlamentarismus im Jahr 1861, als Kaiser Franz Joseph mit dem „Februarpatent“ die ersten demokratischen Voraussetzungen schuf. Das Parlament hieß damals Reichsrat und bestand aus zwei Kammern: dem Abgeordneten- und dem Herrenhaus. Letzterem durften nur bestimmte Personengruppen angehören, darunter Mitglieder des Hochadels, des Klerus, Politiker, Künstler und Wissenschafter. Zu den prominentesten Mitgliedern im Herrenhaus zählten der Dichter Franz Grillparzer, der Chirurg Theodor Billroth, der Industrielle Arthur Krupp und der Bankier Salomon Rothschild. Weibliche Mitglieder gab es keine.
20 Jahre im Provisorium
Das Abgeordnetenhaus wurde, da es 1861 noch kein Parlamentsgebäude gab, in einem Provisorium aus Holz, das die Wiener boshaft „Bretterbude“ nannten, am Schottenring untergebracht. Dieses Provisorium hielt mehr als 20 Jahre.
Gleichzeitig errichtete der in Dänemark geborene Architekt Theophil Hansen das heutige Parlament. Dass er das Gebäude dem Stil eines antiken griechischen Tempels nachempfand, ist kein Zufall, gilt Griechenland doch als Wiege der Demokratie. Alle Elemente des 55.000 m2 großen Hauses – von der Türklinke bis zur Pallas Athene an der neuen Ringstraße – mussten sich dieser Grundidee unterordnen.
Kaiser im Nachthemd
Über dem Haupteingang des Wiener Parlamentsgebäudes prangt ein tonnenschweres Marmorrelief, das Kaiser Franz Joseph als – nein, nicht als griechischen, sondern als römischen – Herrscher zeigt. Da die Skulptur in eine Toga gehüllt ist, bezeichneten sie die Wiener als „Kaiser im Nachthemd“.
Dabei war Franz Joseph kein Freund des Parlaments. Er ließ sich zwar eine „Kaiserloge“ bauen, hat aber an keiner einzigen Sitzung teilgenommen und das Hohe Haus nur zwei Mal betreten: 1874 zur Gleichenfeier und 1883 nach der Fertigstellung. Erst später hat er die Notwendigkeit einer Volksvertretung erkannt.
152 Maronibrater
Freilich behielt sich der Monarch sicherheitshalber ein absolutes Vetorecht gegen Beschlüsse des Parlaments vor. Dennoch: Der Vielvölkerstaat ließ sich den Parlamentsbau einiges kosten. Die Errichtung des k. k. Reichsratsgebäudes soll bis zu 24 Millionen Goldkronen (heute rund 200 Millionen Euro) betragen haben.
Von „Wahlen“ im heutigen Sinn konnte noch lange keine Rede sein. Anfangs war nur der Adel wahlberechtigt, später auch reiche Bürger, insgesamt aber nur sechs Prozent der Bevölkerung. 1885 wurde die Zahl der Wahlberechtigten erhöht, nun durften die sogenannten „Fünfguldenmänner“ – Bürger, die mindestens fünf Gulden Steuern zahlten – zu den Urnen schreiten. In Wien waren das 12.243 Männer, darunter neben wirklich Reichen 7591 Kleingewerbetreibende, 472 Lehrer, 152 Maronibrater, 61 Hausierer, drei Sesselträger und ein Hundescherer.
516 Abgeordnete
Im Jahr 1907 fanden die ersten freien Wahlen statt, an denen sich jeder Mann beteiligen durfte. Aber noch immer keine Frau! 516 Mitglieder wurden in den Reichsrat entsandt, die aus allen Teilen der riesigen Monarchie kamen (heute setzt sich der österreichische Nationalrat aus 183 Abgeordneten zusammen).
Mit Gründung der Ersten Republik am 12. November 1918 wurde der Reichsrat zum Parlament, und die beiden Kammern hießen jetzt National- und Bundesrat, das Herrenhaus wurde aufgelöst. Zwar durften erstmals auch Frauen wählen und gewählt werden.
Doch Österreichs Demokratie war kurz bemessen. Nur 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs, im März 1933, nahm die christlichsoziale Regierung Dollfuß einen Formalfehler bei einer Abstimmung zum Anlass, das Parlament und damit die Opposition und die Demokratie auszuschalten.
Zum „Gauhaus“ erklärt
Die Folge des Ein-Parteienstaates war ein blutiger Bürgerkrieg und letztlich die Ermordung von Kanzler Dollfuß durch illegale Nationalsozialisten.
In der Nazizeit wurde das Parlament zum „Gauhaus“, in dem sich die Parteileitung der NSDAP niederließ. Im Krieg wurde die Hälfte des Parlamentsgebäudes durch Bomben, aber auch durch Brandlegung flüchtender deutscher Truppen zerstört. Erst danach, in der Zweiten Republik, setzte sich in Österreich ein stabiler Parlamentarismus durch.
Und den sollten wir zu schätzen wissen.
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