Chronik/Wien

Nach 20 Uhr auf Wiens Straßen: Die Nacht geht vor die Hunde

Wo der Streit zwischen Anrainern und Gastronomen wegen des Lärms der Nachtschwärmer fast schon Tradition hat, ist es jetzt still. In den Bars und Cafés in der Wiener Ausgehmeile Zollergasse stehen die Sessel auf den Tischen, die rauchenden Gästegruppen auf den Gehsteigen fehlen.

Nur aus einem Lokal tönt Musik: Ein Pizzabäcker hat zum Kochen Hip-Hop aufgelegt, draußen wartet ein Lieferdienst-Mitarbeiter auf die Fuhre. Sonst ist um halb neun Uhr abends nichts in der Gasse zu hören. Fast nichts.

An der Kreuzung zur so gut wie menschenleeren Mariahilfer Straße kläfft ein brauner Mischling. Er verbellt den Jack-Russell-Terrier auf der anderen Straßenseite. „Jetzt ist aber mal gut, Emil“, schimpft sein Herrl. „Er braucht halt Ansprache“, fügt er entschuldigend hinzu.

Jogger, Lieferanten, Hunde

Diese wird Emil an diesem Abend noch oft bekommen. Sobald die aktuelle nächtliche Ausgangssperre gilt, sind nämlich nur noch ganz bestimmte Menschen auf der Straße zu sehen: zahlreiche Jogger. Viele Essensauslieferer auf ihren Rädern. Und noch mehr Hundebesitzer.

Rund 55.000 Hunde waren im Vorjahr in Wien registriert. Das heißt: Im Schnitt kommt auf 33 Wienerinnen und Wiener ein Hund.

179 Hundezonen befinden sich im gesamten Stadtgebiet. Sind sie ganz umzäunt, dürfen die Hunde dort ohne Leine und ohne Maulkorb herumlaufen.

Dazu kommen 3.648 Spender für Gackerl-Sackerl.

Sie nutzen ein Privileg: Gassi gehen ist eine Tätigkeit, die laut Gesundheitsministerium explizit unter die Ausnahme „Aufenthalt im Freien zur körperlichen und psychischen Erholung“ fällt.

Das trifft zwar auch auf das Spazieren ohne Hund zu. Hat man einen dabei, ist im Fall einer Kontrolle aber auf den ersten Blick klar, dass nicht ein verbotener Anlass der Grund für den Ausgang ist.

Absicherung

„Die Hundebesitzer genießen es, raus zu dürfen. Der eine oder andere wird die Gassi-Runde vielleicht extra etwas nach hinten verschieben“, sagt ein junger Mann.

Sein Spaniel spielt in der Hundezone beim Haus des Meeres mit einem American-Staffordshire-Terrier-Welpen. „Abends ist alles voller Hundebesitzer. Man kennt sich schon“, sagt dessen Herrl.

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Und schon kommt das nächste Gespann: ein Langhaar-Schäfer und eine ältere Frau. Um morgens ausschlafen zu können, gehe sie mit „Beowulf“ immer so spät wie möglich Gassi, sagt sie.

Mit dem Hund sei sie jetzt auf der sicheren Seite: „Da muss ich jedenfalls nicht mit der Polizei diskutieren.“

Gesellschaft und Ausgang

Diesen Gedanken dürften so manche auch schon im Frühling gehabt haben. Während des ersten Lockdowns berichteten einige Tierheime von verstärkter Nachfrage: nach Haustieren im Allgemeinen (gegen das Alleine-Sein) und nach Hunden im Speziellen (gegen das Eingesperrt-Sein).

Im Tierquartier Wien sind in Lockdown-Zeiten vor allem Pflegetiere gefragt. Das sind Tiere, die das Tierheim nicht dauerhaft, sondern nur für einen definierten Zeitraum abgibt.

Interessenten hätten den Wunsch nach einem Hund zwar noch nie explizit mit einer Absicherung gegen Ausgangssperren begründet, sagt eine Sprecherin. Aber: „Bei manchen Anfragen ist herauszuhören, dass das der Grund ist.“ In solchen Fällen vermittle man keine Tiere.

Stressfrei

Nicht nur für die Besitzer, sondern auch für die Hunde selbst ist die nächtliche Gassi-Runde derzeit etwas Besonderes: „Jetzt sind die Hunde viel entspannter. Sonst sind hier ja die Menschenmassen“, sagt eine Spaziergängerin, die mit ihrem Sohn, einem Jack-Russell-Terrier und einem Mischling über die Mariahilfer Straße geht. „Die Hunde sind die Einzigen, denen der Lockdown guttut.“

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Doch für so manchen Vierbeiner bringt die Ausgangssperre auch Nachteile. Zum Beispiel für einen jungen Labrador, den ein junges Paar an der Ecke Neubaugasse ausführt: „Pepper soll ein Therapiehund werden. Soziale Kontakte wären wichtig für sie“, erzählen die beiden.

Doch diese werden für die Hündin erst möglich sein, wenn die Nachtschwärmer wieder auf die Straßen zurückkehren.