Klagewelle: Mega-Skandal um Lebensversicherungen

Konsumenten haben "ewiges Rücktrittsrecht" bei falscher Widerspruchsbelehrung
Bei Millionen Polizzen ist die Rücktrittsbelehrung fehlerhaft. Kunden können Prämien zurückfordern.

Die österreichische und die deutsche Versicherungswirtschaft könnten in Kürze von einer enormen Klagewelle überrollt werden. Denn: Beim Verkauf von Lebensversicherungspolizzen sollen jahrelang schwerwiegende rechtliche Fehler gemacht worden sein. Das belegen drei Urteile: des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) und des Obersten Gerichtshofs (OGH).

Betroffen sind angeblich der Großteil jener Versicherungsverträge, die zwischen dem 1. Jänner 1994 und dem 30. Juni 2012 abgeschlossen wurden. In Österreich geht es nach Expertenschätzungen um insgesamt zwölf Millionen Polizzen, in Deutschland sogar um rund 120 Millionen.

"In dem genannten Zeitraum wurden die Konsumenten von den meisten Versicherungen gar nicht oder falsch über das Rücktrittsrecht belehrt", sagt Franz Kallinger, Vorstand des österreichischen Prozessfinanzierers AdvoFin, zum KURIER.

Die AdvoFin AG (www.advofin.at) startet die größte Sammelklage-Aktion seit ihrer Gründung im Jahr 2002. In einer ersten Welle werden 15.000 betroffene Polizzen bearbeitet.

"Einerseits wurden in den diesbezüglichen Versicherungsverträgen falsche Widerrufsfristen festgelegt, nämlich 14 Tage statt 30 Tagen", sagt Kallinger. "Andrerseits hätte der Kunde laut OGH-Urteil schon beim Abschluss der Polizze über das Rücktrittsrecht aufgeklärt werden müssen. Und nicht erst bei Zusendung der Polizze." Nachsatz: "Bei vielen Lebensversicherungen wurden aber weder entsprechende schriftliche Belehrungen übergeben noch wurden die Leute mündlich zum richtigen Zeitpunkt aufgeklärt." Diese Mängel bei der Rücktrittsbelehrung könnten für die Versicherungen dramatische Konsequenzen haben.

Ein Paukenschlag

"Wir haben bereits mehrere Hundert Polizzen geprüft und bei etwa 85 Prozent der Fälle ist das Widerrufsrecht fehlerhaft", sagt der steirische Rechtsanwalt Wolfgang Sieder zum KURIER. Sieder hat zu dieser pikanten Causa eine Expertise verfasst. In der kommt der Jurist zum Schluss, dass auf Grund der EuGH- und OGH-Urteile "eine fehlerhafte Belehrung genauso zu behandeln ist, als hätte gar keine Belehrung stattgefunden". Geht es nach dem EuGH, gelte ein "ewiges Rücktrittsrecht".

"Den Rücktritt werden vor allem jene Versicherungsnehmer vornehmen, die beim Rückkauf der Polizze, bei der Prämien-Freistellung der Polizzen oder beim Ausstieg aus dem Versicherungsvertrag herbe Verluste erzielt haben", sagt Kallinger. "Aber auch Kunden, deren aufrechte Polizzen sich negativ entwickelt haben und unter Wasser sind."

Starker Tobak

Viele Kunden, die vorzeitig aus ihren Lebensversicherungsverträgen aussteigen oder schon ausgestiegen sind, haben nach Angaben von Anwalt Sieder "teilweise nicht einmal die Hälfte der einbezahlten Prämien als Rückkaufswert erhalten".

Sie könnten nun aus dem Formalfehler ordentlich profitieren. "Ein Rücktritt von der Polizze bedeutet, dass der Vertrag so anzusehen ist, als ob er nie geschlossen worden wäre", erklärt Sieder. "Der Versicherungsnehmer erhält sohin seine gesamten eingezahlten Prämien zurück, wobei die Vertriebskosten und Gebühren davon nicht abgezogen werden dürfen." Lediglich den Risiko-Anteil für einen etwaigen Todesfall (Ablebensschutz) werden die Versicherungen einbehalten können. Ob auch die Versicherungssteuer in Abzug gebracht werden muss, ist noch unklar.

"Es müssen den Kunden bei einem Rücktritt aber nicht nur alle eingezahlten Prämien zurückgezahlt werden", sagt der Wiener Anwalt Robert Haupt. "Laut Gesetz stehen jedem Konsumenten auch vier Prozent Zinsen pro Jahr zu." Nachsatz: "Wir haben bereits für einige Mandanten Klagen gegen Lebensversicherungen eingebracht, weitere werden folgen."

Der Versicherungsverband (VVO) konnte am Freitag auf Anfrage des KURIER keine Stellungenahme zu der pikanten Problematik abgeben. Eine VVO-Sprecherin kündigte aber für Montag eine Stellungnahme an.

Kontakt-Adressen

Betroffene können sich unter der Adresse office@advofin.at oder unter http://www.advofin.at/anfrage.html an den Prozessfinanzierer AdvoFin, unter office@simonfay.at an AdvoFin-Anwalt Ulrich Salburg, unter office@rechtsanwalt.or.at an Anwalt Wolfgang Sieder oder unter office@ra-haupt.at an Anwalt Robert Haupt wenden. Oder auch an den Verein für Konsumenteninformation (VKI).

Der Grazer Versicherungsmathematiker und Vorsorgeberater Richard Büttgen vergleicht die Folgen mit einem "VW-Skandal für die österreichische Versicherungswirtschaft". Das Problem betreffe "sehr, sehr viele, wenn nicht jeden zweiten Vertrag", sagt Büttgen. Besonders häufig sei die Rücktrittsfrist falsch angegeben worden. Oder die Belehrung habe zum falschen Zeitpunkt stattgefunden: Nicht im Moment der Antragstellung, sondern erst mit der Zusendung der Polizze.

Das OGH-Urteil hat dramatische Konsequenzen. "Das erschreckt mich selbst, dass man wegen so kleiner Fehler die Verträge komplett rückabwickeln kann", sagt Büttgen. "Das ist eigentlich der helle Wahnsinn, ein Super-GAU: Das betrifft auch bereits abgelaufene Verträge." Der OGH sei sich nicht bewusst, was er auslöst. Ein ganzer Rattenschwanz offener Fragen schließt sich an: Was passiert mit der Maklerprovision, was mit der bezahlten Versicherungssteuer? Und: Wie würde das Geld, das der Kunde aus der Rückabwicklung erhält, überhaupt steuerlich behandelt?

Attraktiv wäre eine Anfechtung und Rückabwicklung jedenfalls für fondsgebundene Polizzen, die völlig unter Wasser sind. Büttgen warnt aber davor, jetzt blauäugig Versicherungsverträge zu kündigen. "Das muss man sich unbedingt durchrechnen. Viele Verträge sind noch in Hochzinsphasen abgeschlossen worden." Und damals waren hohe Garantiezinsen von an die vier Prozent möglich - solche Konditionen könne man jetzt unmöglich erzielen.

Nachträglich sanieren könnten die Versicherungsgesellschaften das Problem nur, indem sie alle Kunden anschreiben und neu über den Rücktritt belehren, sagt Büttgen. Dann beginne die 30-tägige Rücktrittsfrist von Neuem zu laufen. Zum Schaden des Versicherungsnehmers könne das Versäumnis jedenfalls nicht ausgelegt werden - dass etwa der Vertrag nicht zustande gekommen sei, wenn der Versicherungsfall eintritt.

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