"Er ist schon fast Jesus Christus"

epa03610141 A man holds portrait of Josef Stalin during the laying of flowers at the grave of the late Soviet leader Josef Stalin at a ceremony to mark the 60th anniversary of his death in Red Square in Moscow, Russia, 05 March 2013. EPA/YURI KOCHETKOV
Vor 60 Jahren starb Stalin – vergessen ist er bis heute nicht: Russland huldigt dem Sowjet-Diktator in überschwänglicher Form.

In Deutschland und in Österreich weiß jeder halbwegs gebildete Halbwüchsige, dass das Tragen von nationalsozialistischen Insignien strafrechtliche Folgen nach sich ziehen kann. In Russland ist die Welt eine verkehrte: Wenn Busse mit dem Abbild Josip Stalins durch die Metropolen Moskau oder Petersburg fahren, bleibt der Aufschrei des Entsetzens aus – vielmehr wird diese Propaganda als vollkommen natürlich wahrgenommen: Stalin, einer der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte, hat dort Heldenstatus. Und das wird anlässlich seines 60. Todestages gefeiert.

Filme im staatlichen Fernsehen, Konferenzen, öffentliche Aufmärsche und nicht zuletzt die kurzzeitige Rück-Benennung der StadtWolgograd in Stalingradbilden den Rahmen des Kults, der auch von der Obrigkeit mitgetragen wird. Die Bevölkerung will es, der Staatsapparat gibt diesem Wunsch nach – oder umgekehrt, je nachdem, wie man es sieht: DasUmfrageinstitut Lewadahat ermittelt, dass etwa 48 Prozent der Russen Stalins Rolle in der Geschichte als positiv wahrnehmen – nur 22 Prozent meinen, er hätte wohl schlechten Einfluss auf den Lauf der Dinge genommen.

„Die reale Politik fehlt“

Anderseits mag der Hang des Machtapparats zur Unterstützung dieses Wunsches aber auch aus strategischer Überlegung kommen. "Es wird so viel über Stalin geredet, weil es an einer realen Politik fehlt", so der Schriftsteller Michail Weller bei einem Runden Tisch zum 60. Todestag von Stalin. Aber auch die eigenen, vom Westen als demokratiepolitisch manchmal bedenklich wahrgenommenen Handlungen zu manifestieren, mag ein Motiv sein: "Das Volk kümmert sich nicht um Freiheit und Demokratie (...), willigt gleichmütig in alles ein, stimmt einhellig ab. Und hasst wieder Amerika", schreibt der Publizist Nikolaj Swanidse im Moskowskij Komsomolec. Die „Daumenschrauben“ seien fest angezogen.

Stalin werde dabei wie eine Ikone hochgehalten: "Er ist schon nicht mehr der blutrünstige Diktator, sondern fast Jesus Christus", meint Swanidse. Unreflektierte Darstellungen in Schulbüchern, die Stalins vor allem als „Manager in Krisenzeiten“ zeichnen, würden ihn auch bei den Jungen wieder populär machen. Eine bedenkliche Entwicklung: Auch die Anbringung der Inschrift "Stalin hat uns die Treue zur Nation anerzogen" in der Moskauer Metro – ganz im sowjetischen Stil – hat nicht für Irritationen gesorgt.

Todeslisten

"Er ist schon fast Jesus Christus"
epa03610140 A woman holds portrait of Josef Stalin before laying flowers at the grave of the late Soviet leader Josef Stalin at a ceremony to mark the 60th anniversary of his death in Red Square in Moscow, Russia, 05 March 2013. EPA/YURI KOCHETKOV
Aktionen von regierungskritischen Blättern, die auf die eigentliche Rolle Stalins hinweisen, bleiben zumeist unbeachtet. DieNowaja Gazetaund dieNovoe Vremjaetwa haben jene Schriftstücke veröffentlicht, die unter dem Namen „Todeslisten“ blutige Geschichte schrieben: In Zahlenkolonnen werden Personenkreise eingegrenzt, die es in Lager zu stecken oder zu exekutieren galt – für den Verwaltungsbezirk Moskau lautet der Wert 35.000: 30.000 Menschen, die im Gulag landen sollten; 5000, die ihr Leben verlieren sollten.

Wie viele Menschen während seiner dreißigjährigen Herrschaft starben, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. In den Sowjetarchiven finden sich folgende Zahlen: 799.455 Exekutionen wurden dort zwischen 1921 und 1953 registriert, 1,7 Millionen Tote in Gulags gezählt. Forscher schätzen die Zahl der Todesopfer aber weitaus höher ein: Bis zu 60 Millionen Menschen könnten während Stalins Regime ihr Leben gelassen haben.

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