Paris erwacht aus der Schockstarre

Die Glocken von Notre Dame – und ein riesiges Polizeiaufgebot
Berührende Szenen an den Schauplätzen – und ein mächtiges Polizeiaufgebot.

"Paris s’éveille" –– "Paris wacht auf", heißt eines der schönsten Chansons, die je über die französische Hauptstadt geschrieben wurden. Die Hymne mit dem ironisch-melancholischen Unterton, die Chanson-Bad-Boy Jacques Dutronc 1968 sang, passt gut zu diesem Sonntagnachmittag in Paris. Zwei Tage nach dem Unfassbaren, das dieser Stadt angetan wurde, erwachen die Pariser langsam aus ihrer Schockstarre.

Touristen

Museen, Kinos, Geschäfte, öffentliche Gebäude waren das ganze Wochenende geschlossen. Am Tag nach den Anschlägen wirkte Paris wie eine Geisterstadt. Wer nicht musste, ging zunächst nicht außer Haus. Die Straßen wirkten wie sonst nur im August, wenn die Pariser auf Urlaub sind und die Stadt in der Hand von Touristen ist.

Und auch etliche Besucher haben sich entmutigen lassen. Viele sind abgereist oder haben kurzfristig storniert, erzählt Vincent, Rezeptionist in einem kleinen Hotel im Zentrum. Die Band U2 hätte am Samstag in Paris spielen sollen, etliche Gäste wollten extra anreisen, doch das Konzert wurde abgesagt, wie alle anderen Veranstaltungen. Paris war an diesem Samstag nicht wiederzuerkennen. "Ich habe meine Stadt noch nie so gesehen," sagt Vincent.

Sonntagvormittag erwacht die Stadt langsam. Noch ist wenig los. Der RER, der Vororte-Zug, der Besucher sonst rasch und bequem vom Flughafen ins Zentrum bringt, ist schlecht besetzt. Taxifahren, so sagen sich viele, ist sicherer.

Der Gare du Nord im 10. Arrondissement, der meist frequentierte Bahnhof Europas, wirkt wie der Bahnhof eines verschlafen Provinznests. Hier, an der Place Napoléon III, wo täglich 700.000 Passagiere kommen und gehen, hat heute nur eine einzige Brasserie geöffnet.

Szenenwechsel. Vor dem Centre Pompidou tummeln sich normalerweise Straßenkünstler und Flaneure. Am Rande des Marais-Viertels gelegen, ist das Museum für moderne Kunst touristischer Anziehungspunkt, an jedem anderen sonnigen Sonntagvormittag wimmelt es hier vor Menschen. Jetzt ist das Museum geschlossen, nur eine Gruppe japanischer Touristen wickelt trotzdem tapfer ihren Fotoparcours ab. Stefano und Caterina, ein junges Paar aus Turin, sind unter den wenigen Passanten. Sie sind für ein verlängertes Wochenende hergekommen, wollten nach Disneyland. Alles zu. Sie gehen stattdessen spazieren entlang der Seine, wo die Bouquinisten wie jeden Tag ihre Toulouse-Lautrec-Drucke verkaufen.

Offiziell hat die Pariser Polizei die Order ausgegeben, Märkte bis Donnerstag geschlossen zu halten. Die Souvenir-Stände bieten trotzdem ihre Andenken aus dem "Cabaret Chat Noir" feil und vor dem legendären Eisgeschäft Berthillon nahe Notre Dame muss man schon wieder Schlange stehen.

Im Lauf des Nachmittags gesellen sich zu den Touristen auch immer mehr Franzosen. Fast trotzig wirken sie, wie sie in den Brasserien sitzen und debattieren, als wollten sie sagen: Ihr wolltet uns unseres Lebensgefühls berauben? Nicht mit uns!

Die Place de la Répu-blique, einer der symbolträchtigsten Plätze der Stadt, ist an diesem Sonntag erneut, wie schon nach Charlie Hebdo, zum Blumen-und Lichtermeer geworden. Ebenso der Gehsteig vor den Lokalen ein paar Gassen weiter in der Rue Alibert, wo am Freitag Dutzende ermordet wurden. Gemischte Gefühle überkommen einen. Trauer, aber auch Respekt und Hochachtung vor diesen Parisern, die sich nicht unterkriegen lassen. Sie weinen, tanzen, musizieren. Und gehen wieder in ihre Brasserien. Die hunderten, schwer bewaffneten Polizisten, die sich an allen öffentlichen Plätzen unter die Menge mischen, an die wird man sich wohl gewöhnen müssen.

Messe in Notre Dame

Wird man sich auch dran gewöhnen müssen? "Marine Le Pen: 2017 ist sie Präsidentin", ist Jean überzeugt. Nein, die Franzosen seien keine Rassisten, ereifert sich der korpulente Taxifahrer. Er selbst ist vor 30 Jahren aus Haiti hierhergekommen, er habe immer Arbeit gehabt, nie Probleme. Aber heute sei alles anders. Die Jungen hätten keine Chance, besonders nicht, wenn sie aus den berüchtigten Vororten stammen. Und die amtierenden Politiker, die hätten es vergeigt. Man habe es ja gewusst: Die vielen verzweifelten Jungen, die seien eben leichte Beute für die Dschihadisten gewesen. Freitagabend hat Jean blutverschmierte Verletzte ins Spital gebracht. Der Schock sitzt ihm in den Knochen.

Und jetzt? Paris beugt sich nicht. Es wird sich wieder aufrichten. An diesem Sonntagabend schlagen um 18.15 Uhr die Glocken von Notre Dame. Der Erzbischof liest eine Messe zum Gedenken für die Opfer der Attentate. Tausende Menschen kommen.

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