EU verstärkt Kampf gegen Schlepper und will Seenotrettung leisten

Erneut Boot mit 300 Menschen in Seenot geraten. Was im Zehn-Punkte-Plan der EU-Kommission steht.

Die EU-Außenminister waren am Montag gerade erst zusammengetreten, um zu beraten, wie sich Flüchtlingsdramen im Mittelmeer verhindern lassen, als die neuesten Meldung kamen: Mindestens drei weitere Schiffe mit mehreren Hundert Menschen an Bord sollen vor Malta und Italien in Seenot geraten sein, in Griechenland strandete eines mit 200 Flüchtlingen. Erst am Sonntag waren bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer bis zu 950 Flüchtlinge ertrunken. Bei einer Mahnwache in Wien wurde Montagabend den Ertrunkenen gedacht. Mehr dazu hier.

Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht: Die italienischen Behörden rechnen damit, dass in Libyen zwischen 500.000 und einer Million Menschen auf die Abfahrt nach Italien warten. "Es ist unsere moralische Pflicht zu verhindern, dass solche Flüchtlingstragödien immer wieder passieren", sagte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Allerdings gebe es "keine Zauberlösungen". Am Donnerstag soll es einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs geben.

Hunderttausende warten noch auf die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa - woher sie kommen: Die Todesrouten.

Mittelfristig werden die EU-Staaten an mehreren Punkten ansetzen müssen: Vor Ort in den Ländern, aus denen die Flüchtlingsströme besonders stark sind; bei der Rettung auf See; und bei der Verteilung jener, die nach Europa kommen.

Wo die Prioritäten liegen sollen, das muss noch verhandelt werden; ebenso darüber, wer wo in welchem Ausmaß mitzahlt. Doch mögliche Lösungen liegen schon längst am Tisch.

Vor Ort: Fahrten mit Schleppern verhindern

Die oberste Priorität: Dass möglichst wenige Menschen sich in die Hände der Schlepper begeben.

Die eine Stoßrichtung: Strengere Kontrolle vor Ort.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner will Gerettete "nicht mehr nach Europa, sondern in UNHCR-Anlaufstellen nach Nordafrika" bringen lassen, wo über ihr Asyl in Europa entschieden werden soll. "Man muss auch klar sagen, dass wir diese Flüchtlingsdramen weder in Europa noch im Mittelmeer lösen werden können", sagt Außenminister Sebastian Kurz. "Es braucht ein Engagement vor Ort, um die Todesfahrten zu stoppen."

Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat schlägt zudem vor, dass UNO-Einsatzkräfte vor Ort in Libyen gegen Schlepper vorgehen sollen.

Die andere Stoßrichtung: Hilfe beim Herkommen.

Für jene Flüchtlinge, die die EU-Staaten aufnehmen können bzw. wollen, werden legale Fluchtwege nach Europa gefordert. "Asylsuchenden muss die Möglichkeit gegeben werden, sicher nach Europa zu reisen", sagt SPÖ-EU-Mandatar Josef Weidenholzer. "Kein Einziger darf mehr auf kaputte Boote und Schiffe gezwungen werden."

Dazu könnte man etwa die Möglichkeit schaffen, Asyl schon außerhalb der EU (z. B. in EU-Botschaften) zu beantragen –, um legal und sicher nach Europa zu reisen. Flüchtlingen aus Kriegsgebieten wie Syrien könnte auch ein temporärer Schutzstatus gewährt werden.

Auf See: Mehr Mittel für die Rettung

"Wir müssen anerkennen, dass wir einen europäischen Notstand haben. Es ist kein italienischer Notfall", sagt Italiens Außenminister Paolo Gentiloni. Die EU müsse mehr Mittel für Überwachung und Rettung im Mittelmeer bereitstellen, "die jetzt zu 90 Prozent von Italien geleistet werden".

Anfang November wurde das italienische Programm "Mare Nostrum" aus Kostengründen vom "Triton"-Programm der EU-Grenzschutzbehörde Frontex abgelöst – mit einschneidenden Folgen: Statt neun stehen nun nur noch drei Millionen Euro Budget pro Monat zur Verfügung. Und statt Rettung geht es nun mehr um Kontrolle: Die italienische Marine wachte im Rahmen von "Mare Nostrum" vor der Seegrenze Libyens; die Triton-Schiffe bewegen sich 30 Meilen vor der italienischen Küste und sollen die Grenzen überwachen, aber nicht aktiv nach Flüchtlingen suchen.

In Europa: Engere Kooperation

Dazu zählt einerseits die gemeinsame Finanzierung der Seerettung – und andererseits eine bessere Zusammenarbeit bei der Aufnahme der Flüchtlinge in der EU. "Derzeit ist es so, dass einige wenige Länder, u. a. Österreich, die Hauptverantwortung tragen", sagt Kurz. Schon länger wird eine Quote diskutiert, mithilfe derer Flüchtlinge etwa nach Bevölkerungszahl oder Wirtschaftsleistung auf die EU-Staaten verteilt werden.

Nach den jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer musste die EU viel Kritik einstecken. Jetzt hat die EU-Kommission einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt, der am Donnerstag Thema bei einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs sein soll. Die Vorschläge im Detail:

1. MEHR SEENOTHILFE: Die Grenzüberwachungsprojekte "Triton" und "Poseidon" sollen mehr Geld bekommen. Zudem könnte das Gebiet, auf dem die Schiffe unterwegs sind, vergrößert werden.

2. VERNICHTUNG VON BOOTEN: Die Boote von Schleusern sollen beschlagnahmt und zerstört werden. Die EU-Kommission erhofft sich dabei ähnliche Erfolge wie im Kampf gegen Piraten in Somalia.

3. ZUSAMMENARBEIT VON EU-ERMITTLERN: Die Polizeibehörde Europol, die Grenzschutzagentur Frontex und die Justizbehörde Eurojust sollen stärker bei ihren Ermittlungen gegen Schleuser zusammenarbeiten.

4. BEARBEITUNG VON ASYLANTRÄGEN: Das Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) soll nach dem Willen der Kommission Teams in Italien und Griechenland aufstellen, um Asylanträge schnell zu bearbeiten.

5. FINGERABDRÜCKE: Die EU-Staaten sollen sicherstellen, dass alle Flüchtlinge mit Fingerabdrücken erfasst werden.

6. NOTFALLSITUATIONEN: Es sollen Möglichkeiten ausgelotet werden, ob Flüchtlinge im Notfall über einen Sondermechanismus verteilt werden können.

7. PILOTPROJEKT: Angedacht ist ein EU-weites, freiwilliges Pilotprojekt zur Verteilung von Flüchtlingen. In einem ersten Schritt könnte es 5000 Plätze für schutzbedürftige Personen geben.

8. SCHNELLE ABSCHIEBUNG: Ein neues Programm unter der Koordination von Frontext soll dafür sorgen, dass illegale Einwanderer zügig wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden.

9. LIBYEN UND NORDAFRIKANISCHE NACHBARN: Die Kommission schlägt eine Zusammenarbeit mit Ländern rund um Libyen vor - der Staat gilt nämlich als wichtigstes Transitland für Bootsflüchtlinge.

10. VERBINDUNGSBEAMTE: In wichtigen Drittstaaten könnten sogenannte Verbindungsbeamte für Immigrationsfragen eingesetzt werden, die zum Beispiel Informationen zu Flüchtlingsbewegungen sammeln.

„Die Katastrophe war vorhersehbar und wurde von Europa nach Ende der ‚Mare Nostrum‘-Rettungsmission Ende November 2014 bewusst in Kauf genommen“, bedauert eine sizilianische Helferin. Menschenrechtsorganisationen bezeichnen es als Lüge, dass eine ökonomische Supermacht wie Europa kein Geld für den Hilfs-Einsatz habe. Sie fordern den sofortigen Start einer europäischen „Mare Nostrum“-Mission zur Rettung von Menschen, die vor Krieg, Folter und Gewalt fliehen müssen.

Die Kosten für die Operation „Mare Nostrum“, die Italien alleine schulterte, beliefen sich auf neun Millionen Euro im Monat. „Wenn man diese Summe auf alle 28 EU-Länder verteilt, ist das pro Land ein geringer Beitrag“, rechnen Beobachter vor. Zudem müsste die Verteilungsquote gerechter ausfallen: Derzeit nehmen nur sechs EU-Länder Flüchtlinge auf.

Einsatz gegen Schlepper

Premier Matteo Renzi rief indessen zu einem gemeinsamen Einsatz gegen kriminelle Schlepperbanden, die im Bürgerkriegsland Libyen freie Hand haben, auf. Der Polizei von Palermo gelang die Zerschlagung eines internationalen Schlepperrings. Dabei wurden 24 Personen aus Eritrea, Äthiopien, Ghana und Elfenbeinküste festgenommen. Außerdem forderte Renzi gemeinsame Lösungen für das Chaos in Libyen, wo aktuell Zehntausende Menschen auf die lebensgefährliche Überfahrt warten.

Einen klaren Plan scheint es aber noch nicht zu geben. In einer ersten Reaktion nach der Katastrophe plädierte der Premier für eine internationale Polizeiaktion in Libyen zur Kontrolle der Küsten und zur Zerschlagung von Schlepperbanden. Kurz darauf schloss Renzi jegliche Bodenintervention vor Ort aufgrund des zu großen Risikos aus.

Aktivist Massimo Marnetto von der römischen Bürgerinitiative „Libertà e Giustizia“ steigt angesichts der Gleichgültigkeit Europas gegenüber dem „Völkermord im Mittelmeer“ auf die Barrikaden. Brüssel verschließe bewusst die Augen vor den Dramen im Mittelmeer, kritisiert Marnetto im Gespräch mit dem KURIER, denn so zynisch es klinge, jeder tote Flüchtling sei ein Problem weniger für Europa. „Ein Europa der Finanzmärkte und des humanitären Zynismus wird nie mein Europa sein.“

„Die Triton-Aktion, die Mare Nostrum scheinheilig ablöste, hat die alleinige Aufgabe Grenzen zu sichern, aber nicht Menschenleben zu retten“, betont Pater Camillo Ripamonti vom Flüchtlingsdienst Centro Astalli. Es müssten umgehend alternative Eintrittsmöglichkeiten nach Europa, wie etwa humanitäre Korridore, errichtet werden, um das immer größere „Massaker im Mittelmeer“ zu beenden.

Christopher Hein, Direktor des Flüchtlingsrates Cir, findet es höchste Zeit, dass die EU ihre fundamentalen Werte, wie das Recht auf Leben, endlich anwendet: „Immigration und Menschenrechte sind keine Themen, die man allein den Innenministerien, die sich auf Ordnung, Sicherheit und nationale Interessen konzentrieren, überlassen darf.“

Private Retter

Während Politiker dem Massensterben tatenlos zusehen, starten immer mehr Privatleute Rettungsaktionen. Ein italienisch-amerikanisches Unternehmerpaar initiierte das Privatprojekt Moas, das 2014 rund 3000 Flüchtlinge retten konnte. Ab Anfang Mai wird Moas gemeinsam mit Ärzte ohne Grenzen ihre Rettungsaktionen vor der Insel Malta fortsetzen.

Der Deutsche Harald Höppner kaufte um 60.000 Euro einen Fischkutter, den er mit freiwilligen Helfern in ein Rettungsboot umbaute. Er ist bereits Richtung Mittelmeer unterwegs, um zwischen Libyen und der Insel Lampedusa in Seenot geratenen Menschen zu helfen.

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