Mehr als ein Dutzend US-Spione in Ministerien

Noch mehr Spione in Berlin als angenommen - Steinmeier und Kerry sprachen wenig über die Affäre.

Die Affäre um mutmaßliche US-Spione in Deutschland ist einem Zeitungsbericht zufolge möglicherweise noch umfangreicher als bisher angenommen: Der US-Auslandsgeheimdienst CIA habe mehr als ein Dutzend Regierungsmitarbeiter in Deutschland als Quellen geführt, berichtete die Bild am Sonntag unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise.

Betroffen sind laut dem Blatt vor allem die vier Ministerien Verteidigung, Wirtschaft, Innen und Entwicklungshilfe. Letzteres sei für die CIA von Interesse, weil über das Entwicklungshilfeministerium verdeckte BND-Operationen im Ausland liefen.

Keine Treffen derzeit

Viele der Spione arbeiteten schon mehrere Jahre für den US-Geheimdienst, berichtete die Bild weiter. Aufgrund der aktuellen Debatte fänden derzeit aber keine Treffen zwischen den Spionen und der CIA in Deutschland statt. Darüber hinaus werde von den US-Diensten geprüft, ihre Agentenführer in die US-Botschaften nach Warschau und Prag zu verlegen und von dort aus operieren zu lassen.

Erstmals haben sich demnach auch US-Stellen gegenüber der deutschen Bundesregierung zu den Spionagevorwürfen gegen einen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums geäußert. Es bestehe keine nachrichtendienstliche Verbindung zu dem Mitarbeiter, hieß es.

Observation durch BND

Laut dem Blatt haben die deutschen Nachrichtendienste offenbar bereits auf die Enthüllungen reagiert: Der US-Geheimdienst habe registriert, dass mehrere Botschaftsmitarbeiter seit einigen Tagen von Spezialisten des Bundesamtes für Verfassungsschutz observiert werden, hieß es demnach aus US-Geheimdienstkreisen.

Am Donnerstag hatte die deutsche Regierung den obersten Geheimdienstler der Amerikaner in Berlin aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Begründet wurde der drastische Schritt mit den Ermittlungen gegen zwei mutmaßliche Spione der USA beim Bundesnachrichtendienst (BND) und im Verteidigungsministerium sowie den umfangreichen Spähaktionen des US-Dienstes NSA, die vor einem Jahr bekannt geworden waren.

Handy-Ausspähungen

Im deutschen Regierungsbetrieb hat es zudem laut Spiegel weitere Fälle mysteriöser Handy-Ausspähungen gegeben. Wie das Hamburger Nachrichtenmagazin berichtete, war auch der Ex-Bundestagsabgeordnete Steffen Bockhahn (Linke) betroffen. Bockhahn war als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums in der vergangenen Legislaturperiode für die Kontrolle der Geheimdienste zuständig. Ermittler gehen demnach dem Verdacht nach, dass es einen Zusammenhang zur amerikanisch-deutschen Spionageaffäre geben könnte.

Bockhahns engste Mitarbeiterin bemerkte dem Bericht zufolge am 30. Juli 2013 Manipulationen an ihrem Handy. Unbekannte sollen den gesamten SMS-Verkehr zwischen ihr und dem damaligen Bundestagsabgeordneten durchforstet sowie gezielt nach Dienst-Mails mit Bezug zum Parlamentarischen Kontrollgremium gesucht haben. Bockhahn zählte nach den Enthüllungen des Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die Aktivitäten der NSA in Deutschland zu den entschiedensten Kritikern des US-Geheimdienstes.

Geheimdienstoperation?

Das deutsche Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern ermitteln laut Spiegel seit August 2013 wegen des Verdachts auf Computersabotage und das Auskundschaften von Staatsgeheimnissen. Hochrangige Regierungsbeamte vermuteten, "dass es sich um eine Geheimdienstoperation handelt", sagte Bockhahn dem Magazin.

Auch der Obmann der CDU/CSU im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags, Roderich Kiesewetter, teilte dem Bericht zufolge mit, eine technische Überprüfung seines Handys habe ergeben, dass unbekannte Dritte darauf Zugriff hätten. Der Ausschussvorsitzende Patrick Sensburg (CDU) sagte dem Spiegel, nach den jüngsten Spionagefällen fürchte er einen "Dominoeffekt": "Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr rauskommen wird und dass dabei nicht nur Amerika im Fokus stehen wird." Die deutsche Regierung will nun in allen Bundesministerien nach Schwachstellen der Kommunikationstechnik sowie nach Spuren amerikanischer Spionagetätigkeit suchen lassen.

Die Reizworte "Spionage", "Affäre", "Skandal" fielen beim gemeinsamen Auftritt des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier mit US-Amtskollegen John Kerry nicht. Eine Stunde lang sprachen die Außenminister Deutschlands und der USA am Sonntag am Rande der Wiener Atomgespräche auch über "bilaterale Themen", so die diplomatisch-diffuse Formulierung.

"Strategische" Freundschaft

Am Ende formulierten sie in einer vierminütigen gemeinsamen Pressekonferenz das alte und neue Credo der Beziehungen: Die beiden Partner sind zu wichtig in einer Welt, in der es vielerorts brennt, um nicht miteinander ihre "strategische" Freundschaft zu pflegen. Irak, Iran, Afghanistan, Nahost - Kerry listete alle Konflikte auf, in denen auch Deutschland bei der Lösung gefragt ist.

Auch Steinmeier vermied seinerseits jede Schärfe. Er sprach lediglich von "manchen Beschwernissen" in jüngster Zeit. Auch seine Botschaft: Wir können und sollten uns gerade jetzt kein Zerwürfnis mit den Amerikanern leisten. Die aktive Rolle Deutschlands bei der Suche nach Frieden unterstrich er mit einer Reiseankündigung: Er werde am Montag zu einer zweitägigen Vermittlungsinitiative in den Nahen Osten fliegen, sagte der SPD-Politiker.

Österreich weltweites Geheimdienst-Zentrum

Dabei bewegten sich die beiden Außenminister am Sonntag auf heißem Terrain, wenn es um das Thema Spionage geht. Denn die österreichische Hauptstadt gilt weltweit als eines der Zentren der Geheimdienste. Experten schätzen, dass 4.000 bis 5.000 Geheimdienst-Mitarbeiter an der Donau tätig sind - mindestens. "Klassische Spione mit großem Engagement für ihr Heimatland sind nach wie vor in einer überdurchschnittlichen Zahl im Einsatz", stellt der österreichische Verfassungsschutzbericht fest.

Zumindest einer der beiden mutmaßlichen Spione aus dem deutschen Verteidigungsministerium und dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) soll von hier aus von CIA-Mitarbeitern geführt worden sein. Pikant und passend zugleich also, dass Steinmeier und Kerry ihr erstes Gespräch nach der Ausweisung des obersten US-Geheimdienstler in Deutschland ausgerechnet in Wien hatten.

Treffen am Rande der Atomgespräche

Das Treffen war eigentlich nur "Beiwerk" aus ganz anderem Anlass. Der Atomstreit mit dem Iran hatte die Außenminister nach Wien geführt. Auch in diesem Fall ging es darum, einem Prozess neues "Leben" einzuhauchen. Kurz vor dem für 20. Juli geplanten Ende stockten die Gespräche der 5+1-Gruppe (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien und Deutschland) mit Teheran. Die Chefdiplomaten wollten herausfinden, wie die Chancen für ein fristgemäßes Ende des Streits stehen.

Der designierte Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, warnt angesichts der mutmaßlichen US-Spionagefälle in Deutschland vor einem nachhaltigen Vertrauensbruch. "Man muss jetzt den amerikanischen Freunden erklären, dass Freunde sich zuhören, anstatt sich abzuhören", sagte Juncker der Bild am Sonntag.

"Dieser Vorgang kann zu einer richtigen Vertrauenskrise führen - nicht nur zu einer transatlantischen Vertrauenskrise, sondern auch zu einer Vertrauenskrise unserer Bürger gegenüber dem Staat." Juncker warf den Regierungen Versagen vor: "Wir haben hier ein echtes Demokratieproblem. Die Regierungen haben die Kontrolle über ihre Geheimdienste verloren, die normalerweise nicht in einem rechtsfreien Raum operieren dürfen und die sich auch gegenüber den Regierungen verantworten sollten."

Der mutmaßliche US-Spion beim deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) wurde nicht aus der Berliner Botschaft der Vereinigten Staaten geführt. Wie das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel am Samstag im Voraus berichtete, waren es CIA-Agenten aus der U.S. Botschaft in Wien, die den BND-Mitarbeiter seit 2012 mehrmals in Salzburg trafen, von ihm geheime Dokumente erhielten und dafür Geld zahlten.

Geringeres Entdeckungsrisiko

Laut Spiegel bedeutete es für die CIA ein geringeres Entdeckungsrisiko, die sensible Quelle aus dem nahe gelegen Ausland zu führen. Die Nachforschungen der Bundesanwaltschaft könnten den Agentenführern aus Österreich nun allerdings Probleme bereiten. Sollte es den Ermittlern nämlich gelingen, die Führungsoffiziere des mutmaßlichen BND-Spions zu identifizieren, würden sie im Falle eines Strafverfahrens in Deutschland keinen diplomatischen Schutz genießen, so das Nachrichtenmagazin.

Nach Spiegel-Informationen lieferte der 31-jährige BND-Mitarbeiter den Ermittlern bei seinem umfangreichen Geständnis Beschreibungen von zwei mutmaßlichen CIA-Agenten, mit denen er Kontakt hatte. Die Fahnder versuchen nun, die beiden anhand dieser Informationen zu identifizieren.

Außenministerium schaltet sich ein

Den Informationen des Nachrichtenmagazins Spiegel werde man nachgehen, erklärte das österreichische Außenministerium am Samstag gegenüber der APA. Weitere Angaben wurden nicht gemacht. An der US-Botschaft in Wien war vorerst niemand für eine Stellungnahme erreichbar.

Zweifel an Spionage-Stopp

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ungeachtet ihrer Kritik an der mutmaßlichen US-Spionage in Deutschland Zweifel an einem Stopp der Bespitzelung angemeldet. "Ich glaube, es ist nicht so ganz einfach, die Amerikaner davon zu überzeugen - es ist ja eine generelle Herangehensweise -, die Arbeit der Nachrichtendienste jetzt völlig umzukrempeln", sagte sie im ZDF-Sommerinterview.

"Deshalb müssen wir (...) deutlich machen, wo die unterschiedlichen Auffassungen liegen", sagte sie für die Sendung "Berlin direkt". Auf die Frage, ob sie Änderungen im Verhalten der USA erwarte, antwortete Merkel: "Das kann ich nicht voraussagen, ich hoffe natürlich, dass sich etwas ändert."

USA rügt Deutschland

Die US-Regierung hat mit deutlicher Verstimmung auf die harsche Kritik aus Berlin wegen mutmaßlicher Spionagefälle reagiert. Das Thema solle nicht offen über Medien, sondern intern zur Sprache gebracht werden, forderte der Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, am Freitag. "Alle Differenzen, die wir haben, sind am effektivsten über bestehende interne Kanäle zu lösen, nicht über die Medien."

Währenddessen fordert Deutschland die USA auf, sich öffentlich für die Spionage-Affäre zu entschuldigen, berichtet der britische Guardian am Freitag. Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier trifft seinen amerikanischen Kollegen John Kerry am Sonntag bei den Atomgesprächen mit dem Iran in Wien, aber an oberster Stelle steht eine Antwort der USA auf die Spionage-Affäre. "Diese Situation überschattet derzeit alles", sagte ein ranghoher, deutscher Beamter gegenüber dem Guardian. "Die Spionage wird am Sonntag der führende Gegenstand der Gespräche sein."

Mike Rogers: "Wutanfall" der Deutschen

Zudem gab es scharfe Worte von US-Abgeordneten. Der Rauswurf des CIA-Stationsleiters in Berlin sei ein "Wutanfall" der deutschen Regierung, meinte der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus, Mike Rogers.

Die deutsche Regierung hatte am Donnerstag als Reaktion auf mutmaßliche Ausspähaktionen den obersten Geheimdienstler der Amerikaner in Berlin aufgefordert, Deutschland zu verlassen.

"Das ist Etwas, was wir von den Russen, den Iranern und Nordkoreanern erwarten, nicht etwas, was wir von den Deutschen erwarten."

Die US-Geheimdienste hätten den deutschen Diensten Informationen geliefert, die das Leben von Deutschen gerettet hätten, so der Republikaner Rogers am Freitag in einem Interview bei CNN.

Rogers: Deutsche tolerieren andere Spione

Der Rauswurf des CIA-Mannes "scheint schlichtweg nicht wie die Reaktion eines Erwachsenen". Gleichzeitig warf Rogers den Deutschen praktisch vor, iranische und russische Top-Spione im Land zu tolerieren. "Ich sehe kein Interesse, diese Chefs rauszuwerfen."

Auch gab es erstmals scharfe Kritik an Berlin in US-Medien. In einem Kommentar in der Zeitung Wall Street Journal war von "gekünstelter Empörung" die Rede. Deutschland wisse, dass auch befreundete Staaten sich gegenseitig ausspionieren, schrieb die einflussreiche Zeitung.

Keine Gespräche mit Merkel

Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind angespannt. US-Präsident Barack Obama habe seit über einer Woche nicht mehr mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel gesprochen, bestätigte Eranest am Freitag. Allerdings gibt es erste Aussichten auf Gespräche.

US-Außenminister Kerry werde am Rande der Wiener Atomgespräche am Sonntag Steinmeier (Deutschland) treffen. Dieser plädierte für einen Neuanfang in den Beziehungen zu den USA. "Wir wollen unsere Partnerschaft, unsere Freundschaft auf ehrlicher Grundlage neu beleben."

Freihandelsabkommen gefährdet

Der deutsche Justizminister Heiko Maas sieht unterdessen wegen der Spionageaffäre das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA gefährdet. "Wir brauchen für ein solches Abkommen ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Zustimmung in Deutschland. Und die läuft uns im Moment wegen der Spionageaffäre davon", sagte der SPD-Politiker dem Kölner Stadt-Anzeiger (Samstag). Das müsse die Regierung in Washington verstehen. Führende Ökonomen warnten hingegen davor, das Abkommen nun infrage zu stellen.

Keine Grundlage für Haftbefehl

Die Bundesanwaltschaft in Deutschland ermittelt derzeit gegen einen mutmaßlichen Spion im Verteidigungsressort, der US-Geheimdienstler mit Informationen versorgt haben soll. Bisher gibt es demnach aber anders als bei dem in der vergangenen Woche enttarnten mutmaßlichen Doppelagenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) keine Grundlage für einen Haftbefehl.

Aus US-Regierungskreisen hieß es diesbezüglich, dass der angebliche Spitzel aus dem Verteidigungsministerium nicht in Kontakt mit dem US-Geheimdienst gestanden sein soll, sondern viel mehr mit dem US-Außenministerium. Dabei habe es sich eher um eine Freundschaft zwischen dem Ministeriumsmitarbeiter und seinem Kontakt auf US-Seite gehandelt, so ein mit dem Fall betrauter Regierungsvertreter am Freitagabend.

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