Briefwahl-Murks, aber kein Betrug

Zweite Chance für den Wahlverlierer? Die FPÖ ortet massive Unregelmäßigkeiten bei Briefwahl in sieben Wahlbezirken, das Höchstgericht prüft
Wahlwiederholung lokal denkbar, Van der Bellen dürfte aber Hofburg-Hausherr bleiben.

Die FPÖ will ihre Niederlage bei der Stichwahl zum österreichischen Bundespräsidenten nicht hinnehmen und zieht gegen das Ergebnis vor Gericht. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat einen Einspruch beim Verfassungsgericht eingereicht. Die FPÖ will, dass die ganze Stichwahl wiederholt wird. Eine 150-seitige Anfechtung aus dem Büro von Ex-FPÖ-Justizminister Dieter Böhmdorfer ging am Mittwoch beim Verfassungsgerichtshof in Wien ein.

FPÖ-Kandidat Norbert Hofer war bei der Stichwahl am 22. Mai nur knapp seinem Kontrahenten Alexander Van der Bellen unterlegen. Nach dem amtlichen Endergebnis hatte Van der Bellen einen Vorsprung von 30.863 Stimmen.

Was sind die Gründe?

Die FPÖ hat in ihrer Wahlanfechtung folgende Gesetzesverletzungen angeführt, die nur die Briefwahl betreffen: Insgesamt gab es bei der Wahl 113 Bezirkswahlbehörden. In 94 davon seien nicht näher erläuterte "Gesetzeswidrigkeiten" festgestellt worden. In 82 davon seien die Briefwahlkarten zum gesetzlich festgelegten Beginn der Sitzung der Bezirkswahlbehörden (am Montag nach der Wahl um 9 Uhr) bereits in nichtige und auszuzählende Wahlkarten vorsortiert worden – was nicht erlaubt ist. Das kommt so: Eine Briefwahlstimme steckt in einem Wahlkartenkuvert, auf dem Name und Unterschrift des Wählers stehen. In diesen 82 Wahlbehörden wurden jene Kuverts, bei denen zum Beispiel die Unterschrift fehlt und die damit ungültig sind, aussortiert. Davon seien insgesamt 573.275 Wahlkarten betroffen.

In 17 Bezirkswahlbehörden seien weiters die Briefwahlkarten vor Beginn der Auszählung bereits geöffnet worden, was nicht erlaubt ist. Davon seien 120.067 Wahlkarten betroffen. In 11 Bezirkswahlbehörden seien die Wahlkartenkuverts vor der Auszählung geöffnet und die Stimmkuverts aus den Wahlkartenkuverts bereits entnommen worden, was nicht erlaubt ist. Davon betroffen seien 80.953 Wahlkarten.

Strache will mit diesen Zahlen vor allem darlegen, dass es massive Verfehlungen bei dieser Wahl gegeben habe. Tatsächlich sind das alles teils kleinliche Verfahrensmängel, aber keine Hinweise auf Wahlbetrug. Das alles dürfte daher nicht für eine Wahlwiederholung reichen.

Für den Verfassungsexperten Theo Öhlinger ist das vorzeitige Auszählen von Wahlkarten noch kein Grund für eine Neuaustragung der Wahl. "Wenn das korrekt abgelaufen ist, wüsste ich nicht, welchen Unterschied es im Ergebnis machen soll, wenn zu früh ausgezählt wurde."

Schwerer wiegen zwei lokal sehr begrenzte Verdachtsmomente: In 4 Bezirkswahlbehörden seien zum amtlichen Beginn der Sitzung am Montag nach der Wahl die Wahlkartenstimmen bereits ausgezählt worden – was nicht erlaubt ist. Davon seien 30.295 Wahlkarten betroffen.

Besonders schwer wiegt der Vorwurf an sieben Bezirkswahlbehörden. Dort sei die Auszählung der Wahlkarten nicht durch die Bezirkswahlbehörde erfolgt, sondern durch nicht zuständige Personen, meldet die FPÖ. Davon betroffen seien 58.374 Wahlkarten – eine nicht unrelevante Zahl.

Zumindest diese knapp 60.000 Wähler könnten so noch einmal ihre Stimme abgeben müssen. Denn heikel ist für den Verfassungsrechtler Öhlinger der Verdacht, dass in diesen sieben Bezirken keine Kommission das Auszählen überwacht haben soll: "Dann müsste der VfGH der Anfechtung wohl stattgeben, weil das Wahlergebnis ein anderes sein kann." Die Verfassungsrichter haben bereits begonnen, die Wahlanfechtung zu prüfen. Sie werden die Wahlbehörde des Innenministeriums zu einer Stellungnahme zu allen fraglichen Punkten auffordern. Bisher hat die Wahlbehörde angegeben, dass alle Bezirkswahlbehörden ordnungsgemäß ihre Wahlergebnisse eingemeldet haben.

Sollte sich belegen lassen, dass hier geschlampt wurde und damit das Ergebnis verzerrt worden sein könnte, muss die Wahl in diesen Wahlbezirken wiederholt werden. Auch in diesem Fall gilt als unwahrscheinlich, dass Van der Bellen seinen Vorsprung von mehr als 30.000 Stimmen einbüßen könnte.

Ein Eingabefehler auf der Homepage des Innenministeriums, noch in der Wahlnacht von kurier.at nüchtern rapportiert, wurden von der FPÖ tagelang zum Skandal hochstilisiert – obwohl umgehend und plausibel als Versehen klargestellt. Seit gestern liegt das komplette Wahlanfechtungs-Paket der FPÖ vor. Hauptvorwurf: Ungültige Briefwahl-Kuverts seien zu früh ausgeschieden, gültige schon vor Montag geöffnet worden. Straches Anwalt behauptet, dass die Briefwahlstimmen in der Mehrzahl der Bezirke zu früh ausgezählt wurden. Beamte, die schneller fertig werden wollen – ein Mega-Skandal? Eindeutige Hinweise auf Wahlbetrug gibt es weiterhin keine. Die auf 150 Seiten ausgewalzten Vorwürfe hinterlassen so mehr Fragen als Antworten: Was haben die Tausenden FPÖ-Wahlbeisitzer gegen die (für das Ergebnis irrelevanten) Regelverstöße unternommen oder haben sie augenzwinkernd mitgemacht? Als Norbert Hofer im 1. Wahlgang obsiegte, war noch alles Eitel Wonne. Warum ruft die FPÖ erst nach der verlorenen Stichwahl nach dem Richter?

Die FPÖ nutzt die Schwächen des Briefwahl-Systems gnadenlos für eine Dolchstoßlegende. Bei den Urnenstimmen Sonntagnacht lag Norbert Hofer noch vorne, nach Auszählung der Briefwahlstimmen war’s aus mit dem Traum von der Hoferburg. Nun wird skrupellos an der Story geschnitzt: Den Blauen sei der Sieg gestohlen worden. Nach erster Prüfung der Vorwürfe meinen Juristen, dass sie bestenfalls für eine lokale Wahlwiederholung, aber für keine Umkehr des Wahlergebnisses reichen. Die Inszenierung der Wahlanfechtung lässt freilich erwarten: Die Blauen werden so lange "Haltet den Dieb" schreien, bis sie sich selbst die Führung des Landes unter den Nagel gerissen haben. Für alle, die das noch immer nicht wahrhaben wollen, wird es das böse Erwachen erst danach geben.

Nicht nur deshalb, weil die Anfechtung zu einer Wahlwiederholung führen könnte, sondern auch, weil die Zeit knapp ist.
Hofer ist Dritter Nationalratspräsident (FPÖ) und würde zusammen mit Doris Bures (SPÖ) und Karlheinz Kopf (ÖVP) einspringen, wenn der VfGH mit seiner Entscheidung länger braucht als vier Wochen.
Alexander Van der Bellen könnte dann nicht, wie geplant, am 8. Juli angelobt werden – die Amtszeit von Heinz Fischer endet jedenfalls an diesem Tag. Bis zur Entscheidung des VfGH – wie auch immer diese ausfällt – wären dann die drei Nationalratspräsidenten als Kollegialorgan gemeinsam Bundespräsident. Bei Entscheidungen stimmen sie zu dritt ab.
Das Szenario, Hofer könnte diese Phase nutzen, um (wie von ihm angedroht) die Regierung zu entlassen, ist also unwahrscheinlich.
Neue Wahl im Herbst?Wie es mit der etwaigen Wahl- oder Auszählwiederholung bei der Bundespräsidenten-Stichwahl weitergeht, ist offen. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist bereits aktiv geworden, nachdem von massiven Unregelmäßigkeiten berichtet worden war.
Ein neuer Wahltermin sei laut Robert Stein vom Innenministerium organisatorisch in sechs bis acht Wochen, wenn nicht erst im September möglich. Ob nur in einzelnen Bezirken oder in ganz Österreich – „jede Größenordnung ist denkbar“.
Anfechtungen seltenDer Verfassungsgerichtshof ist recht häufig mit Anfechtungen befasst, zu Wahlwiederholungen kommt es aber selten. Probleme gab es meist mit Wahlkarten.
Zuletzt musste im Herbst 2015 die Bürgermeisterwahlen in zwei Gemeinden wiederholt werden. In Hohenems setzte sich der FPÖ-Kandidat Dieter Egger in der zweiten Runde gegen seinen ÖVP-Kontrahenten Richard Amann durch. In Bludenz blieb ÖVP-Ortschef Mandi Katzenmayer vor SPÖ-Herausforderer Mario Leiter. Grund für die Anfechtungen waren, dass es u. a. Sammelbestellungen an Wahlkarten gegeben hatte.
In Neumarkt am Wallerseehätte 2014 die Bürgermeister-Wahl wiederholt werden müssen, weil der Wahlakt (Stimmzettel und Protokolle) unverschlossen aufbewahrt worden waren. Die SPÖ hatte auf eine Anfechtung verzichtet. Und wegen eines Chaos beim Sortieren der Stimmen ordnete der VfGH bei der Landtagswahl 1999 die Neu-Auszählung in Innsbruck an.

Anwalt Dieter Böhmdorfer hat Mittwochabend in der Zeit im Bild 2 neue Zahlen zur Untermauerung der Anfechtung der Bundespräsidenten-Wahl präsentiert. Unter anderem erklärte er, dass 120.000 Wahlkarten noch am Wahlsonntag geöffnet und am Montag in die Auszählung mit einbezogen worden seien, was rechtswidrig sei.

Auch behauptete Böhmdorfer, der die FPÖ bei der Anfechtung beraten hatte, dass 573.000 Wahlkarten zu früh "ausgesondert" worden seien. Verfassungsrechtler Heinz Mayer meinte ebenfalls in der ZiB2, dass angesichts der umfassenden Vorwürfe der Freiheitlichen aus seiner Sicht der VfGH kaum in den vorgesehenen vier Wochen einen Entscheid fällen werden können. In diesem Fall könnte Wahlsieger Alexander Van der Bellen nicht rechtzeitig angelobt werden und das Kollegium der Nationalratspräsidenten würde die Rolle des Staatsoberhaupts vorerst übernehmen.

Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk schätzte indes in mehreren Medien die Chancen auf eine erfolgreiche Anfechtung als eher gering ein. Er glaubt (in den SN), die "Anzahl und Schwere der Rechtswidrigkeiten dürften nicht ausreichen, um die Wahl auszuhebeln".

Nur weil zu früh ausgezählt wurde, glaubt auch Verfassungsrechtler Theo Öhlinger nicht an eine erfolgreiche Anfechtung. Heikel ist für ihn hingegen der Verdacht, dass in sieben Bezirken keine Kommission das Auszählen überwacht haben soll: "Dann müsste der VfGH der Anfechtung wohl stattgeben, weil das Wahlergebnis ein anderes sein kann", meint er im KURIER.

Das von der FPÖ bekrittelte Vorsortieren der Briefwahl-Karten verteidigte indes der Leiter der Wahlabteilung im Innenministerium, Robert Stein in Standard und Presse. Bestimmte Vorsortierungen vor der gesetzlichen Auszählzeit seien zulässig. So dürfe man vorab prüfen, ob die Unterschrift auf der Wahlkarte (eidesstattliche Erklärung) fehlt. Dafür gibt es eine eigene Lasche, die man öffnen kann, ohne die Wahlkarte als solche aufzureißen.

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