Finnland: "Vier Typen, die Punkrock lieben"

Finnland: "Vier Typen, die Punkrock lieben"
Im KURIER-Gespräch erzählt die Band, warum ihre Songs nur aus drei Akkorden bestehen und wieso sie Punk lieben.

Wie findest du Pertti Kurikan Nimipäivät?" – Sänger Pertti dreht den Spieß kurzerhand um. Die vielen Interviews sind für die finnische Band Pertti Kurikan Nimipäivät (PKN) aber nicht nur Spaß. Sänger Kari hatte beim KURIER-Gespräch keine Lust. Nur Schokolade, Brötchen und "Ordnungsrufe" von Bassist Sami konnten ihn doch überzeugen.

PKN gelten als heimliche Helden des ESC. Drei der vier Bandmitglieder haben das Downsyndrom, einer ist Autist. Gemeinsam machen sie Punk, in Finnland sind sie Stars. Entstanden ist PKN 2009 bei einem Workshop eines Vereins für Erwachsene mit geistigen Behinderungen. Gitarrist Pertti schrieb das erste Lied an seinem Namenstag – der Bandname "Pertti Kurikkans Namenstag" entstand.

Finnland: "Vier Typen, die Punkrock lieben"
Auch die Idee für den ESC kam von Pertti. "Sein Traum war immer, teilzunehmen, auch Toni mag den Song Contest, also haben wir die Band beim Vorentscheid angemeldet", erzählt Kalle Pajamaa. Mit Teuvo Merkkiniemi ist er nicht nur Manager, sondern betreut die Vier auch zu Hause. Punk als Rebellion gegen Bevormundung scheint in ihrem fremdbestimmten Alltag die perfekte Musikwahl – oder gefällt ihnen die Musik einfach nur? Ein Platz in der ESC-Geschichte ist PKN jedenfalls sicher: Allein schon wegen ihres Liedes – mit 85 Sekunden das kürzeste, das dort je gespielt wurde.

KURIER: Beim Song Contest werden 200 Millionen Menschen zusehen. Wie ist es für Sie, vor so einem großen Publikum aufzutreten?

Helle: Wir alle finden die Teilnahme am Song Contest toll. Das wird ein großer Spaß. Ich bin ein bisschen nervös, aber die anderen Jungs nicht. Freunde und Familie unterstützen uns sehr.

Sie sind die erste Band mit mentalen Beeinträchtigungen. Wie gehen Sie damit um?

Helle: Ich sehe uns nicht als mental beeinträchtigt. Ich bin Sami, das ist Kari, das Toni und das Pertti. Wir machen einfach gerne Musik. Unsere Handicaps sind kein Thema, zumindest nicht für uns. Wir sind zu allem fähig.

Dennoch geht es in den Songs um Ihren Alltag, auch um das Leben mit Behinderung.

Aalto: Es geht um eigene Erlebnisse. Aber auch um die Gesellschaft, die Polizei, Politik und wie unser Leben ist. Das Lied für den Song Contest "Aina mun pitää" (deutsch: Ich muss immer) beschreibt die kleinen Dinge des Alltags, die wir machen müssen, ob wir wollen oder nicht.

Warum Punkrock?

Helle: Pertti liebt Punkrock seit 30 Jahren. Deshalb wollte er natürlich diese Musik machen, die ihm gefällt. Ich wusste gar nichts über Punk. Bevor ich in der Band war, habe ich Jazz gemacht. Der Wechsel war am Anfang sehr komisch, Punkrock ist etwas ganz anderes.

Wie entstehen Ihre Lieder?

Kurikka: Für uns sind die Noten Farben. Wir verwenden drei Farben, also drei Akkorde.

Helle: Pertti kombiniert die Farben. Dann spielen wir das Lied eine Zeit lang, bis Kari die Songtexte dazu schreibt. Pertti und Kari machen das zusammen. Manche Texte sind aus Perttis Tagebuch, das er jeden Abend schreibt.

Was bedeutet Musik für Sie?

Välitalo: Durch die Band lerne ich Fertigkeiten, werde besser.

Helle: Die Freude mit den anderen Jungs zu spielen und die Freude an unsere Fans weiterzugeben. In Finnland aber auch in andere Ländern haben wir viele Fans.

Aalto: Natürlich ist das auch unser Job, und wir bekommen Geld dafür.

Was hat sich für Sie verändert, seit es die Band gibt?

Välitalo: Ich könnte Stunden darüber sprechen. Ich werde zum Beispiel oft erkannt und angesprochen, viele fragen "Bist du der Drummer von PKN?"

Kurikka: Die Band hat für uns viel verändert, auch die Musik hat sich verändert. Wir sind viel besser geworden.

Aalto: Wir proben viel öfter, auch wenn es Tage gibt, wo ich dazu keine Lust habe.

Helle: Wenn wir Gigs haben, proben wir viel, jeden Tag. Mir und den anderen gefällt das aber sehr.

Was sollen die Leute über Sie wissen?

Helle: Wir sind einfach vier Typen, die Punkrock lieben.

Pertti Kurikka (Gitarre, Text) schreibt mithilfe eines Farbsystems die Musik von PKN, weiß aber nicht immer, wie man sie spielt. Neben Gitarre spielt er auch Drehorgel – von Abba, Weihnachtsliedern bis hin zu Oper. Er ist Autist und untersucht gerne die Kleidungsstücke anderer. Pertti liebt den Song Contest und träumte immer davon, einmal am Bewerb teilzunehmen.

Sami Helle (Bass) ist politisch engagiert und Mitglied einer konservativen Partei. Mit Kari lebt er in einer Wohneinrichtung für Erwachsene mit Behinderung. Er ist teilweise in den USA aufgewachsen und spricht sehr gut Englisch. Bei Interviews übersetzt er für die anderen Bandmitglieder und gibt auch so gerne den Ton an.

Kari Aalto (Sänger, Text) schreibt die Texte, singt und spricht auf der Bühne. Er liebt Motorräder, geht gerne in Bars und hasst Fußpflege. Er selbst beschreibt sich als den Stursten der Gruppe, der nicht immer Lust hat, mit den anderen zu proben. Immer wieder geraten die Bandmitglieder deswegen in Streit, vertragen sich aber kurz darauf wieder.

Toni Välitalo (Schlagzeug) ist der Jüngste in der Band. Für ihn bedeutet Musik alles – am liebsten spielt er Schlagzeug, singt oder schaut TV-Serien. Anders als die anderen Mitglieder der Band lebt Toni bei seinen Eltern. Ihre Versuche, ihn dazu zu überreden, in eine Wohneinrichtung zieht, lehnt er ab. Sein Vater ist sehr stolz auf ihn und begleitet die Band auf ihren Reisen. Dass PKN zum ESC fährt, hätte er nie gedacht.

„Verfluchte Pediküre. Ich hasse sie!“, ruft Kari. Er hat genug davon, dass er zur Fußpflege muss und davon, dass ihn Bassist Sami immer begleitet. Die Szene aus dem Dokumentarfilm „The Punk Syndrome“ zeigt exemplarisch, was auch der ESC-Beitrag der finnischen Punker beschreibt: Im Leben der vier Männer gibt es aufgrund ihrer geistigen Behinderungen Bevormundung – durch Familie, Betreuer, Gesellschaft. Die Doku der finnischen Filmemacher Jukka Kärkkäinen und Jani-Petteri Passi feierte im Jahr 2012 auf dem Festival du Réel Premiere.

Einblicke

Sie gibt nicht nur Einblicke in das Leben der Bandmitglieder, sondern wirft einen emotional-kritischen Blick darauf, wie Menschen mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft gesehen werden und welche Schwierigkeiten sich daraus für sie ergeben. Etwa, wenn Pertti zunächst nicht vom Tod seiner Mutter informiert wird, „weil er Autist“ ist. Oder wenn Kari davon erzählt, dass er mit seiner Freundin eine Familie gründen möchte. Wenn Toni mit seinen Eltern darüber streitet, dass er bei ihnen wohnen möchte, sie ihn aber von einer Wohneinrichtung überzeugen wollen. Oder Sami bei einem Sportbewerb mit Spott umgehen muss.

Über die Musik gelingt es den Männern im Alter von Anfang 30 bis Ende 50, sich in der Rebellion gegen den Mainstream zu emanzipieren. 2017 soll eine weitere Doku folgen. Die Aufnahmen laufen bereits. „The Punk Syndrome“ wird bis zum Song Contest im Wiener Schikaneder-Kino gezeigt.

Kommentare