Conchita Wurst im Finale: "The Wiener takes it all?"
Es muss vermutlich Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrtausends gewesen sein, dass erstmalig die Sinnhaftigkeit des Eurovision Song Contests infrage gestellt worden ist. Bis dahin war der Bewerb spannend, die Lieder, selbst jene, die nicht gewannen, ein Ereignis, nicht selten Welthits ("Volare", Dominico Modugno, 1958, Platz 3). Die nationalen Sendeanstalten bestimmten ganz einfach, wer zum Song Contest fuhr. Der ORF schickte drei Mal in Serie Udo Jürgens, bis es klappte – etwas, was der BBC mit Cliff Richard nicht glückte. Was jetzt bejammert wird: Dass Conchita Wurst vom ORF selbstherrlich über die Köpfe rechtloser Gebührenzahler (Melkkühe der Nation) hinweg auserkoren wurde, um ihr Land zu repräsentieren, ist nur die Fortsetzung dieser alten Tradition. Warum das Volk entscheiden lassen? Das Volk irrt fast immer. Es gibt keine Schwarmintelligenz in Geschmacksfragen.
In den 80ern verkam der Contest zusehends. Das lag daran, dass man Songs für den Wettbewerb "baute". Songs, die nur dort funktionierten, nicht aber in der wirklichen Welt. Das führte dazu, Trends argwöhnisch zu beäugen: Was könnte wie funktionieren? Songs wurden wie unter Laborbedingungen in der Petrischale konstruiert, man suchte die Formel, und begann, das Volk zu befragen, Marktforschung war das Zauberwort.
Galgenvögel und Clown
Das führte auch mitunter zur paradoxen Situation, dass sich die Wähler für Künstler entschieden, die den Song Contest, dieses große Erbe, schlankweg ablehnten, ja nachgerade hassten, etwa sinistre Galgenvögel wie Stermann & Grissemann, die beim Volksentscheid knapp einer Nullnummer namens Eric Papilaya unterlagen. Und als Krönung erkor man zu allem Überfluss auch noch einen dem Geist des Villacher Faschings verpflichteten Clown namens Alf Poier, ein Konzept, das sich am Ende naturgemäß selbst fraß.
Natürlich ist es eine richtige Entscheidung des ORF gewesen, Conchita Wurst das Land beim Sangeswettbewerb vertreten zu lassen. Sie ist charismatisch, der Song ist großartig, sie polarisiert und biedert sich nicht an, sie fordert Toleranz und hat Glamour. Dass nun ein blasses Auslaufmodell wie Poier aus dem Kriechkeller des Unterbewussten seine Angst, Hilf- und Ratlosigkeit vor dem Wurstkonzept stammelt, sie als "künstlich hochgezüchtetes Monster" bezeichnet, zeugt nur von Angepasstheit an ein muffiges Lager.
Pikanterweise wurde Wurst auch von ihrem armenischen Kollegen Aram MP3 attackiert, einem der Favoriten, der laut darüber nachdachte, ob dieser Wettbewerb ihr helfen könne, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Kleinlaut war er aber alsbald zurückgerudert, weil er ahnte, dass solche Äußerungen in einem Wettbewerb, der, nun ja, in der Hardcore-Fangemeinde eher homonormativ konnotiert ist, nicht gerade superwitzig sind.
Die Frage ist, inwieweit Frau Wurst von Arams Rülpser profitiert, hier wären transparente Wählerstromanalysen interessant, aber in diesem Fall hält sich die EBU verschämt bedeckt; so auch darüber, wie viele Televoter bei diesem gigantischen Spektakel mitzumachen gewillt sind, immerhin profitieren Telefonnetzanbieter pro Tipp bis zu 50 Cent. Kenner munkeln von nicht mal einem Prozent der geschätzten 100 Millionen Zuschauer.
Wenn das, analog zur Europawahl, die Euroskeptiker wären, die Unzufriedenen, die Berufsnörgler, die Kleingeistigen und Mutlosen, dann Gute Nacht, Conchita. Denn: "Das Böse breitet sich aus, wenn die Guten nichts unternehmen", sagte schon Laotse, und der war bekanntlich Europäer, der gerne Frauenkleider trug.
Aber wenn man der Euphorie für Wurst hier in Kopenhagen Glauben schenken darf, dann wird es, wie die dänische Moderatorin Lisa Rönne orakelte, am Samstag (live in ORFeins, 21 Uhr) heißen: "The Wiener Takes It All".
Verfolgen Sie das große Songcontest-Finale Samstagabend im KURIER-Liveticker!
The Wiener takes it all!" schrieb die Welt in ihrer Online-Ausgabe, "Conchita wurstelt sich weiter" titelte bild.de. Niederländer twittern unter #TeamWurst, Boy George gesteht Conchita Wurst über Twitter seine Liebe. Kurz: Das G'riss um die bärtige "Queen of Austria", wie sie am Donnerstagabend in Kopenhagen von "Borgen"-Star Pilou Asbaek angekündigt wurde, ist gewaltig.
Weiterhin Top-Favorit ist Schweden mit Sanna Nielsen, auf Platz 3 liegen nun die Niederlande (The Common Linnets), Aram Mp3 aus Armenien, der im ersten Halbfinale stimmlich etwas wankte, ist auf Platz 4 abgerutscht.
Makelloser Auftritt
Ein makelloser Auftritt und Solidaritätsbekundungen aus ganz Europa sorgten für den problemlosen Aufstieg ins Finale.
Neben Österreichs Glamourdiva schafften auch neun weitere Länder den Aufstieg in den Kreis der letzten 26. Anders als beim 1. Halbfinale am Dienstag gab es dabei nicht nur eine Überraschung:
Das 2. Semifinale in BIldern
So musste etwa Israels Rockerbraut Mei Feingold - entgegen aller Erwartungen - die Heimreise antreten. Auch die ebenfalls zu den Favoriten gezählte irische Combo Can-Linn feat. Kasey Smith konnte nicht ins Finale aufsteigen.
"Ich habe alles gegeben"
In einer ersten Reaktion zeigte sich Conchita Wurst gerührt von ihrem Erfolg. "Ich habe alles gegeben, was ich hatte - und das hat Gott sei Dank fürs Erste gereicht." Zuvor hatte Wurst einige Schreckminuten zu überstehen, wurde sie doch erst als zehnte und damit letzte Kandidatin genannt. Hier spielte der Zufall der Dramaturgie in die Hände, wird die Reihenfolge der Verkündigung doch ausgelost: "Ich habe mir in dem Moment nur gedacht: Da sitzt doch hinter mir noch die Israeli - und die hat so eine Megastimme. Ich gönne es ihr von Herzen - aber bitte, bitte."
Ihre Ziele für das Finale? "Ich habe das Halbfinale überstanden - alles andere ist Zugabe." Doch für diese Zugabe wird hart gearbeitet, laute das Motto doch jetzt weiterhin: "Nichts mit Party: Konzentration."
LED-Show
Bei der Show selbst setzte sich indes der Trend des 1. Halbfinales fort: Die im Industrialstil adaptierte einstige Schiffswerft B&W Hallerne beeindruckte erneut mit einem technischen Feuerwerk vor gut 10.000 Live-Zuschauern, wofür erstaunliche 1.200 Quadratmeter LED-Fläche und 2.810 Scheinwerfer im Einsatz waren. Alles andere als beeindruckend führte indes das Host-Trio, bestehend aus den beiden Profimoderatoren Nikolaj Koppel und Lise Rönne sowie dem "Borgen"-Schauspieler Pilou Asbaek durch den Abend. Farb- und humorlose Routine folgte da auf die im Vorjahr mit schelmischem Charme durch die Show geleitende schwedische Komödiantin Petra Mede.
Gratulation vom Minister, gute Quoten
Kulturminister Josef Ostermayer (SPÖ) wertete den Finaleinzug als "ein starkes Zeichen für ein tolerantes und offenes Europa". Ihre Teilnahme sei "ein Statement für die Freiheit der Kunst in Form und Ausdruck". Er gratulierte Conchita Wurst "zu ihrem erfolgreichen Auftritt und wünsche alles Gute für das Finale in Kopenhagen". Es freue ihn "besonders, dass dieses Zeichen gerade am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, aus Österreich gekommen ist und uns daran erinnert, gewohnte Sichtweisen zu hinterfragen und nicht in Vorurteile zu verfallen". Auch im ORF freut man sich: Auf ORF eins verfolgten gestern bis zu 850.000 Zuseher den Song von Wurst, das anschließende Voting sahen im Schnitt 822.000 (Spitzenwert: 872.000) Zuschauer, bei einem Marktanteil von 44 Prozent.
Bei der Show am Samstag startet Wurst nun mit Startnummer 11 ziemlich in der Mitte des Feldes. Sollte sie am Samstag beim großen Finale tatsächlich gegen die 25 Konkurrenten triumphieren, wäre das jedenfalls der erst zweite Sieg Österreichs beim ESC seit Udo Jürgens' "Merci Cherie" 1966.
Zahlreiche Song Contest Partys finden auch heuer wieder statt. Durch die guten Aussichten für eine gute österreichische Platzierung dürfte der Andrang diesmal höher sein als üblich. Eine Auswahl an Events in Wien:
Die Initiative „Wir sind Europa“ bringt einen Themenabend in der Diplomatischen Akademie (Favoritenstraße 15a, 1040 Wien). Um 19 Uhr gibt es eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Europäisches Serienwunderland Dänemark“. Dabei steht die Frage im Vordergrund, was dänische Fernsehserien so populär macht. Das ESC-Finale wird von dem "Borgen"-Star Pilou Asbaek moderiert. Ab 21.00 Uhr wird der Eurovision Song Contest übertragen, es werden Getränken und dänische Hot Dogs gericht.
Im Frauenzentrum ega in der Windmühlgasse 26, 1060 Wien, beginnt um 19.30 Uhr die laut Ankündigung „bunteste Eurovisionsparty Wiens“. Dabei kann das Finale auf Leinwänden, je nach Wetter, drinnen oder draußen mitverfolgt werden.
Im Vereinslokal Gugg der Homosexuellen Initiative Hosi (Heumühlgasse 14, 1040 Wien) wird das Finale auf zwei Leinwänden übertragen. Der Eintritt ist frei.
In der Inside-Bar (Schikanedergasse 12, 1040 Wien) beginnt das gemeinsame Spektakel bereits um 20.00 Uhr, wer das Siegerland errät, kann eine Flasche Wodka gewinnen.
Auch das Felixx (Gumpendorferstraße 5, 1060 Wien) bietet ein Tippspiel zum Public Viewing. Hier wird unter den Gewinnern Prosecco ausgeschüttet.
Die Neos-Partei will ebenso Conchita Wurst hochleben lassen. Unter dem offiziellen Song-Contest-Motto #joinus lädt man Samstagabend in die „Neosphäre“ (Neustiftgasse 73-75, 1070 Wien).
LESER-Aktion: Wie feiern Sie den Song Contest? Schicken Sie uns ein Foto von Ihrer Song-Contest-Party! Bitte per E-Mail an kult@kurier.at.
Die Aufsteiger im 2. Halbfinale des Eurovision Song Contest 2014:
Finnland | Softengine | Something Better |
Griechenland | Freaky Fortune feat. Risky Kidd | Rise Up |
Malta | Firelight | Coming Home |
Norwegen | Carl Espen | Silent Storm |
Österreich | Conchita Wurst | Rise Like A Phoenix |
Polen | Donatan & Cleo | My Słowianie (We are Slavic) |
Rumänien | Paula Seling & Ovi | Miracle |
Schweiz | Sebalter | Hunter of Stars |
Slowenien | Tinkara Kovac | Round and Round |
Weißrussland | Teo | Cheesecake |
Ausgeschieden sind im 2. Halbfinale:
Georgien | The Shin & Mariko | Three Minutes to Earth |
Irland | Can-Linn feat. Kasey Smith | Heartbeat |
Israel | Mei Feingold | Same Heart |
Litauen | Vilija Mataciunaite | Attention |
Mazedonien | Tijana | To the Sky |
Die Startliste für das Finale des 59. Eurovision Song Contest am Samstagabend in Kopenhagen:
Startplatz | Land | Interpret | Titel |
1 | Ukraine | Marija Jaremtschuk | Tick-Tock |
2 | Weißrussland | Teo | Cheesecake |
3 | Aserbaidschan | Dilara Kazimova | Start A Fire |
4 | Island | Pollapönk | No Prejudice |
5 | Norwegen | Carl Espen | Silent Storm |
6 | Rumänien | Paula Seling & Ovi | Miracle |
7 | Armenien | Aram Mp3 | Not Alone |
8 | Montenegro | Sergej Cetkovic | Moj Svijet |
9 | Polen | Donatan & Cleo | My Słowianie (We are Slavic) |
10 | Griechenland | Freaky Fortune feat. Risky Kidd | Rise Up |
11 | Österreich | Conchita Wurst | Rise Like A Phoenix |
12 | Deutschland | Elaiza | Is It Right |
13 | Schweden | Sanna Nielsen | Undo |
14 | Frankreich | Twin Twin | Moustache |
15 | Russland | Tolmatschowa-Schwestern | Shine |
16 | Italien | Emma | La Mia Citta |
17 | Slowenien | Tinkara Kovac | Round and Round |
18 | Finnland | Softengine | Something Better |
19 | Spanien | Ruth Lorenzo | Dancing In The Rain |
20 | Schweiz | Sebalter | Hunter of Stars |
21 | Ungarn | Andras Kallay-Saunders | Running |
22 | Malta | Firelight | Coming Home |
23 | Dänemark | Basim | Cliche Love Song |
24 | Niederlande | The Common Linnets | Calm After The Storm |
25 | San Marino | Valentina Monetta | Maybe |
26 | Großbritannien | Molly | Children Of The Universe |
Kommentare