60 Jahre KURIER: 1984 - 1994

60 Jahre KURIER: 1984 - 1994

Teil 4: 1984 - 1994. Der Eiserne Vorhang fällt, die EU kommt: Erinnerungen an das Jahrzehnt der Umbrüche

Im Herbst 1989 war Jana Patsch gefordert wie selten zuvor. Die Außenpolitik-Redakteurin des KURIER und gebürtige Slowakin betätigte sich als Übersetzerin. "Wir haben täglich für die Slowakei und Teile Tschechiens eine Kompakt-Ausgabe des KURIER produziert, um die demokratischen Bestrebungen zu unterstützen. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben", erinnert sich der damalige Chefredakteur Franz Ferdinand Wolf an eine "journalistisch große, tolle Zeit, die die Redaktion bis zum Letzten gefordert hat."

Ein polnischer Papst, der Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer sowie die Exekution von Nicolae Ceaușescu – "damals passierte ungefähr alles, was die Weltgeschichte zu bieten hat. Und dann noch der Golfkrieg 1... es hat sich wirklich etwas getan", sagt Wolf.

In dieser weltpolitischen Umbruchsituation vor der österreichischen Haustür sei jeder Mitarbeiter gefordert gewesen und hätte auch verstanden, dass jetzt eine besondere Zeit sei. Von den damals unbekannten Nachbarn kam aber auch viel zurück. Wolf: "Die Leute dort waren begeistert vom KURIER, denn die hatten ja nur die gleichgeschalteten Medien. Der größte Erfolg aber war das TV-Magazin, das wir am Freitag hingeliefert haben. Das wurde uns aus der Hand gerissen, denn die Leute bekamen erstmal einen Überblick über die freien Sender. Damit haben wir unser Verständnis von demokratischem Journalismus exportiert."

Doch auch die Jahre davor hatten es in sich. Nehmen wir nur 1985. Damals gab es den erste Aids-Fall und der KURIER titelte: "Todesvirus nach Österreich eingeschleppt". Der Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell findet im Nachhinein durchaus etwas Positives an dieser Schwulen-Diskussion, wie man damals noch sagte: "Mit der Thematisierung der Bedrohung durch Aids ist endlich auch das publizistische Tabu um die Homosexualität gefallen. Später war es aber auch eine Bürde, von diesem Klischee wegzukommen, Aids sei eine Schwulenkrankheit."

Dann kam 1986 und der Aufstieg von Jörg Hader, die Waldheim-Debatte und Tschernobyl – "ein Katastrophenjahr", scherzt Hausjell, um dann ernsthaft fortzusetzen: "Waldheim war für die österreichische Politik ein Segen, denn ich bin nicht sicher, ob wir uns nach so vielen Jahrzehnten mit der eigenen Geschichte der 1930er-, 1940er-Jahre beschäftigt hätten."

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Blattmacherisch hatten Zeitungen in den Jahren rund um 1990 ohnedies Probleme: "Seit gut zehn Jahren gab es eine Vollversorgung mit Fernsehen und ein Radioprogramm, das eine gehörige Portion Informationsjournalismus bot", analysiert Medien-Experte Hausjell. "Die Tageszeitungen waren stärker genötigt, die Hintergründe auszuleuchten." Und genau das betrieb der neue Chefredakteur Peter Rabl mit seinem Konzept des Tagesmagazins. Nagelproben waren da zum Beispiel der Briefbomben-Terror oder die Abstimmung über den EU-Beitritt. Schon Wochen zuvor informierte und trommelte der KURIER pro Europa: "Als Zeitung versuchen wir, das Gefühl ,Wir sind Europa‘ mit aufzubauen", sagte Rabl damals, um am 13. Juni 1994 in den größtmöglichen Lettern, die das neue Layout-Konzept vorsah, zu verkünden: "Servus Europa!".

20 Jahre später relativiert Rabl: "Von dem Wir-Gefühl ist leider relativ viel verschwunden, weil vieles von dem, was wir versprochen bekommen haben, nicht eingetreten ist. Ich erinnere an eines der Hauptargumente: In der EU gibt es ein Einstimmigkeitsprinzip, und gegen Österreich kann nichts entschieden werden." Das sei längst aufgeweicht. "Oder die aktuelle Problematik, dass reichere Länder, zu denen wir Gott sei Dank gehören, zunehmend die Probleme ärmerer EU-Staaten lösen sollen. Das sind Dinge, die wir uns so nicht erwartet haben. Daher ist es auch verständlich, dass es eine gewisse Frustration gibt."

Die Geschichte rechnet nicht in Jahrzehnten. Aber die 80er-Jahre kann man getrost als das Dezennium des weltpolitischen Wandels bezeichnen. Die Nachkriegsordnung löste sich auf, der Bogen der Ereignisse spannt sich von der Wahl des polnischen Papstes, das Attentat auf ihn, zu den Protesten in der Danziger Werft, der Gründung von Solidarnosc, Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, den Bürgerbewegungen in den Ostblockstaaten, zu den sanften und samtenen Revolutionen, dem Abbau des Eisernen Vorhanges zuerst in Ungarn, freien Wahlen in Polen, dem Fall der Berliner Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands, der Etablierung von Demokratien in den Reformstaaten, dem (heute muss man sagen: zwischenzeitlichen) Ende des Kalten Krieges bis zur Weichenstellung in Richtung eines Neuen Europa als politische Union.

In diesem Jahrzehnt wurde tatsächlich Geschichte geschrieben, die Ereignisse liefen mit einer Logik ab, die sich erst im Rückblick voll erschließt. Wir waren mitten drinnen, haben berichtet, interviewt, analysiert, kommentiert. Das war wirklich Journalismus pur. Wir haben die journalistische Verpflichtung gespürt, intensiv zu informieren – auch unsere Nachbarn, die sich auf den Weg zur Demokratie gemacht hatten. Tastend und mit allen Risiken, die der in einem totalitären System bedeutete. Ich erinnere mich an die KURIER-Kompaktausgabe, die wir in den Herbsttagen 1989 täglich für die Tschechoslowakei produzierten. In Landessprache. So leisteten wir einen kleinen Beitrag zu einer offenen Information unserer Nachbarn, die Jahrzehnte von gelenkten Medien desinformiert worden waren.

Die Entdeckung einer Jahrzehnte verschlossenen Nachbarschaft, unsere Neugierde auf die Nachbarn und die Neugierde der Nachbarn auf unsere Leben im sogenannten Goldenen Westen waren journalistischer Rohstoff für Reportagen, Interviews, Berichte, Analysen. Vieles kommt in Erinnerung: das Europapicknick an der ungarischen Grenze, das Tausende DDR-Bürger zur Flucht nutzten, die Trabi-Kolonnen durch Österreich, der Sommertag, da der österreichische und ungarische Außenminister in Anwesenheit einiger Journalisten und Fotografen den Eisernen Vorhang durchtrennten, die Besucherströme der Nachbarn auf den Wiener Einkaufsstraßen. Und, und, und.

Der KURIER hat berichtet. Es war ein Privileg, in dieser Zeit des Umbruchs und Wandels als politischer Journalist zu arbeiten und eine Zeitung zu leiten, die ihre demokratische Aufgabe ernst nahm: umfassende und offene Information.

Teil 5: Das Jahrzehnt der Wende (1994-2004)

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