Merkel bleiben nur noch "einige Monate"

Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel
Europa-Expertin Gerda Falkner sagt, dass man die Flüchtlingskrise nur gemeinsam bewältigen kann.

Hunderttausende Menschen sind im vergangenen Jahr über Österreichs Grenzen gekommen. 90.000 von ihnen haben einen Asylantrag gestellt. Ein großer Teil darf sich berechtigte Hoffnungen machen, hier bleiben zu dürfen. Wie schaffen wir es, so viele Menschen zu integrieren? Wie kann es gelingen, bis zum Jahr 2030 daraus eine Erfolgsgeschichte zu machen? Klar scheint: Die bisherigen Anstrengungen müssen intensiviert und zum Teil auch beschleunigt werden.

Das heißt konkret: Österreich wird viel Geld ausgeben müssen, etwa für Sprachkurse, Aus- und Weiterbildung jener, die zu uns kommen. Gleichzeitig wäre es ratsam, früher mit all diesen Maßnahmen zu beginnen: Integrationspolitisch wäre es am besten, sich ab dem ersten Tag um die Flüchtlinge zu kümmern – zumindest um jene, die, wie aktuell etwa Syrer, mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben dürfen. Bisher wird meist abgewartet, bis das Asylverfahren zu einem positiven Ausgang gefunden hat – und das kann dauern.

In Deutschland ist das anders, hier kümmert sich die Bundesagentur für Arbeit – vergleichbar mit dem heimischen Arbeitsmarktservice – ab Tag 1 um jene, die zu einer Gruppe mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit zählen.

Hohe Zahlen

Voraussetzung dafür, dass die (verstärkten) Integrationsmaßnahmen funktionieren können, ist, dass die Zahl der Flüchtlinge in einem Bereich bleibt, der zu schaffen ist.

Und Voraussetzung dafür wiederum ist die oft zitierte „europäische Lösung“. Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für europäische Integrationsforschung an der Universität Wien, skizziert das im KURIER-Interview so: Beteiligt sich – wie bisher – nur eine kleine Gruppe an Ländern an der gemeinsamen Flüchtlingspolitik, wird das nicht mehr lange gut gehen. Beteiligen sich aber alle, dann stehen die Chancen gut, „dass das heutige
Ausmaß der Flüchtlingskrise keinerlei Problem“ darstellt.

KURIER: Angela Merkel sagt: "Wir schaffen das!" Wird sie 2030 rechtbehalten haben?

Gerda Falkner: Wir werden es nur gemeinsam schaffen. Es ist eine solche Menge von Menschen, dass es mit einer kleinen Gruppe von Ländern schwierig wird. Die Regierungen müssen sich zur Wiederwahl stellen, und es gibt nationalistische und populistische Tendenzen auch in Österreich, Deutschland und Schweden. Wenn die anderen Länder sich völlig unsolidarisch zeigen und das auch noch mit den typisch nationalistisch-populistischen Argumenten, dann ist es außerordentlich schwierig, eine menschenfreundliche Politik in einer kleinen Gruppe von Ländern durchzuhalten.

Merkel bleiben nur noch "einige Monate"
Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für Europäische Integrationsforschung (eif) an der Universität Wien, im Interview am 14.01.2016.

Kann man sagen: Wenn Angela Merkel sich durchsetzt, dann wird es in ganz Europa funktionieren – aber wenn Viktor Orban sich durchsetzt, dann wird es nirgends funktionieren?

Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann erstmals nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass die EU immer weiter zusammenwächst. Bisher gab es einen positiven Kreislauf: Es gibt Probleme, man versucht sie möglichst sachlich zu lösen, dazu diskutiert man sehr viel miteinander, findet eine gemeinsame Lösung – und das schafft Vertrauen, mit dem der nächste Entscheidungsprozess einfacher wird. Im schlimmsten Fall könnte es passieren, dass sich diese Spirale umdreht. Das geht Hand in der Hand mit der Simplifizierung von Problemen, auch mit der Vorstellung, man könnte ganz allein, im Kleinstaat, die großen Probleme der Zeit am besten für seine Leute lösen.

Die EU wurde als Friedensprojekt gestartet und ist mit großen Projekten wie dem Binnenmarkt oder dem Euro gewachsen. Kann die Flüchtlingsfrage das nächste Großprojekt sein, das die Union stärker macht?

Das ist eine Möglichkeit. Manchmal sind ja unter Druck Entscheidungen möglich, die sonst nicht möglich sind. Wir haben soeben ein großes Forschungsprojekt abgeschlossen, bei dem wir untersucht haben, wie sich die kombinierte Krise – Stichworte Euro, Finanzen, Nachbarschaft – auf die Entscheidungsfindung in der EU auswirkt. Wir haben gelernt, dass drei Faktoren gegeben sein müssen, damit sich eine Krise produktiv auf die EU auswirken kann. Erstens muss eine gravierende Verschlechterung des Status quo drohen. Zweitens muss es einen engen zeitlichen Rahmen geben: Noch vor den nächsten Wahlen sollten die Konsequenzen drohen, nicht erst langfristig. Drittens muss die Problematik viele oder alle EU-Länder betreffen. Das Problem mit der Flüchtlingskrise ist, dass ein paar Länder schwerpunktmäßig betroffen sind und sich die anderen nicht solidarisch zeigen.

Wie ändert man das?

Solange die nationalistischen, populistischen Politiker nicht dominant werden, kann es gelingen, sie in die Pflicht zu nehmen. Sie haben ja ein Eigeninteresse am Weiterbestand der Kooperation, des Binnenmarktes usw. Wenn da eine Allianz der Vernunft geschmiedet wird, gibt es eine Chance, dass man eine faire Verteilung der Lasten findet. Dann ist das heutige Ausmaß der Flüchtlingskrise keinerlei Problem.

Wie soll man das "Eigeninteresse am Fortbestand der Kooperation" bei Blockierern ansprechen? Beteiligt euch – oder es gibt keine EU-Gelder mehr?

Hier müsste die EU etwas, das sie gut kann, wieder zum Klingen bringen: Die Suche nach Paketlösungen. Einen Abtausch über viele verschiedene Themen hinweg. Das ist sinnvoller als einzelne Regierungen zu einzelnen Themen zu erpressen. Das kann in Europafeindlichkeit in diesem Land ausschlagen.

Wenn sich die richtigen Gedanken, die richtigen Politiker durchsetzen – wie sieht dann die EU 2030 aus und wie geht sie dann mit Flüchtlingen um?

Im Positiv-Szenario wird sich die EU 2030 verfestigt haben. Man wird die Flüchtlingsfrage produktiv bewältigt haben – gemeinsam. Man wird viel Geld investiert haben. Man wird die Menschen aufgenommen und integriert haben auf eine Art, die kein Land überfordert. Die EU wird durch den Zustrom von Menschen gewinnen. Wir sind alternde Gesellschaften, die Zuwanderung vertragen – wenn man es gut managt.

Und wie sieht das Negativ-Szenario aus?

Ein Dominoeffekt von "Mia san mia": Abgrenzung, Problem-Vereinfachung, wir gegen die anderen. Diese Spirale nach unten kann zum Auseinanderfallen der EU führen – hin zu einer Gruppe von Kleinstaaten, die sich unheimlich schwertun in einer globalisierten Welt.

Wann wird sich entscheiden, wo wir 2030 stehen werden?

Relativ bald. Ohne starken Schulterschluss in Europa kann Merkel ihre Linie bestenfalls noch einige Monate durchhalten.

Gerda Falkner ist seit 2008 Leiterin des Instituts für europäische Integrationsforschung. Von 2002 bis 2008 war sie Chefin der Abteilung für Politikwissenschaft im Institut für Höhere Studien (IHS). In Anerkennung ihrer Leistungen wurde Falkner 2013 zum „Wirklichen Mitglied“ der Akademie der Wissenschaften gewählt.

Das Institut für europäische Integrationsforschung (EIF) verfolgt als Forschungs- und Lehrplattform das Ziel, die europabezogene Forschung aus einer interdisziplinären Perspektive heraus zu fördern.

eif.univie.ac.at

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