Warum eine jahrtausendealte Tonscherbe Archäologen verzückt

Ein Auszug aus den Georgica von Vergil wurde vor 1.800 Jahren in ein Gefäß für Olivenöl geritzt.
Das Keramikstück lässt mit seiner besonderen Inschrift die Herzen von Fans des Altertums höher schlagen.

Knapp fünf Zentimeter klein, für Archäologen aber eine ganz große Sache: Einer internationalen Forschungsgruppe ist es gelungen, eine 1.800 Jahre alte Tonscherbe aus der andalusischen Erde ans Tageslicht zu befördern.

Was sie darauf erblickten, ist wissenschaftlich bedeutsam: Auf dem Keramikfragment wurde in sorgfältigster Schrift ein Zitat des antiken Dichters Vergil eingeritzt. Ursprünglich war das winzige Bruchstück freilich Teil eines größeren Ganzen. Genauer gesagt eines Gefäßes, in dem einst Olivenöl gelagert wurde.

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Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Universitäten Córdoba, Sevilla und Montpellier erfüllt die Entdeckung jedenfalls mit Stolz. Sie gehen davon aus, dass es sich bei dem Fund in der südspanischen Provinz Córdoba um eine Premiere handelt: Niemals zuvor soll ein literarisches Zitat auf römischen Amphoren, wie die bauchige Töpferware auch genannt wird, freigelegt worden sein. Üblicherweise wurden auf besagten Gefäßen Mengenangaben zu enthaltenen Nahrungsmitteln, Herstellern oder Steuern eingraviert.

Rechtschreibfehler erschwerten Analyse

Das Entziffern der Zeilen gestaltete sich aber knifflig. Erst habe man die Inschrift nicht einordnen können, "wir haben aber gleich vermutet, dass es sich um etwas ganz Außergewöhnliches handeln könnte", wird Iván González Tobar, ein am Projekt beteiligter Archäologe, dazu im Guardian zitiert. Man finde "selten mehrzeilige Gravuren auf einer Amphore".

Analysen offenbarten schließlich Inhalt und Urheberschaft: Das Zitat stammt aus dem ersten Abschnitt von Vergils zweitem Hauptwerk, den Georgica, einem Lehrgedicht in vier Büchern. Vervollständigt lautet es: "[Die Erde] tauschte einst die chaotische Eichel gegen das pralle Weizenohr aus/Und vermischte sich mit der Traube [deine neu gefundene Gabe]."

Beim Entschlüsseln hinderlich waren "einige Rechtschreibfehler, die uns daran hinderten, sofort zu erkennen, worum es sich handelte", berichtet Archäologe González Tobar. "Aber schließlich haben wir es geschafft."

Unklar, wer die Gravur verfasste

Die Verse, die auf den unteren Teil der Amphore geschrieben wurden, seien nie für die Augen einer Leserschaft gedacht gewesen, so die These der Forschenden, die ihre Erkenntnisse nun im Journal of Roman Archeology veröffentlicht haben. "Wir können nicht mit Sicherheit sagen, warum die Zeilen geschrieben wurden, aber wir wissen, dass sie auf einem Teil der Amphore sind, der nicht zu sehen war", betont González Tobar. Er nimmt außerdem an, dass die Gravur aus der Feder eines gebildeten Facharbeiters, der in der Region mit der Herstellung von Amphoren befasst war, stammt.

So oder so: Das kleine Fragment, das fast zwei Jahrtausende lang verborgen war, sei "von außergewöhnlichem Interesse für Archäologen, Epigrafiker und Philologen der lateinischen Umgangssprache".

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