US-Star-Virologe: "Mich überrascht nichts mehr"
Schon zu Beginn des Ausbruchs von Covid-19 stellte er ein internationales Team zusammen, mit dem er nach China reiste, um gemeinsam mit den Experten der Yat-Sen Universität die WHO zu beraten. Am 24. März wurde er selbst positiv auf Covid-19 getestet, seit wenigen Tagen gilt er als genesen.
Mit dem KURIER spricht Ian Lipkin über seine Erfahrungen, den möglichen Zeitpunkt eines Impfstoffs und spart nicht mit Kritik an Regierungen, die in seinen Augen zu spät und zu unwirksam auf die Krise reagiert hätten – vor allem sein eigenes Land, die USA.
KURIER: Wann begann Ihre Arbeit an Covid-19?
Ian Lipkin: Wir fanden das Virus Ende Dezember 2019. Wir haben nun Diagnosetests, aber nicht genug davon, obwohl wir es jetzt schon schaffen, die Ausbreitung zu kontrollieren – zumindest in jenen Ländern, wo sie richtig eingesetzt werden. Ich rede von Deutschland, Österreich, Singapur und China. In den USA sind wir hinten nach, genau wie es in Spanien und Italien war. Wir setzen dieselbe Vorgangsweise ein wie im Mittelalter, als wir die Pest durch Isolation unter Kontrolle bekamen. Und bis wir einen Impfstoff oder Medikamente haben, die man oral einnehmen kann und die billig sind, sind wir auch beschränkt und darauf angewiesen.
Sie selbst haben Covid-19 gerade überstanden. Wie waren Ihre Erfahrungen?
2003 wurde ich mit SARS krank, als ich aus China zurückkam. Diesmal habe ich mich in New York angesteckt, was zeigt, wie sehr sich das Epizentrum des Ausbruchs verschoben hat. Meine Symptome begannen wie bei vielen mit hohem Fieber, einem trockenen Reizhusten, der nicht aufhörte, und fürchterlichem Kopfweh. Es ist keine angenehme Krankheit, soviel ist klar. Ich war lethargisch, müde und einen Tag lang sehr kurzatmig, aber obwohl das extrem beunruhigend war, ging ich nicht ins Spital.
Das Schlimme an der Krankheit ist, dass man sich ein wenig besser fühlt. Nach etwa acht bis zehn Tagen kommt ein Rückfall, wenn sich das Immunsystem einschaltet und man eine Überzahl an Molekülen produziert, die die Krankheit widerspiegeln. Das ist die Phase, in der viele Menschen mit Atmungsproblemen auf der Intensivstation landen. Weil ich mich auskenne, wusste ich, dass ich nach einem Tag mit Kurzatmigkeit auf dem Weg der Besserung war, und jetzt bin ich theoretisch immun. Aber glauben Sie mir, ich hätte eine Impfung vorgezogen.
Die Millionenfrage: Wann wird es Ihrer Ansicht nach einen Impfstoff geben?
Um einen Impfstoff zu erzeugen, müssen wir in drei Phasen testen, inklusive einer großen Anzahl in der Bevölkerung. Dann werden die Resultate präsentiert, um die Finanzierung zu bekommen. Wir reden hier von Milliarden. Ich glaube, dass wir in einem Jahr einen Impfstoff haben werden. Viele reden von 18 Monaten, ich glaube aber, es wird schneller gehen. Einige sprechen von einem Impfstoff Ende dieses Jahres, das halte ich für übertrieben optimistisch.
Arbeiten Sie international stark zusammen?
Ja. Denn wir wissen, dass es schneller geht und billiger wird, wenn wir unsere Tests vergleichen, wenn wir fusionieren. Wir tauschen uns auf eine Weise aus, die es vorher noch nie gab. Wir informieren einander wie nie zuvor.
Und in der Zwischenzeit? Kann eine Antikörpertherapie oder Impfung von bereits Genesenen helfen?
Ich pushe seit Jahren die Plasmatherapie. In China verwenden sie sie. Und in New York beginnen wir diese Woche mit zwei Spitälern und 450 Patienten. Plasmatherapie ist sehr alt und sehr gut. Sie geht auf 1890 zurück. Sie hat bei der Diphterie funktioniert, sie hat bei der Grippe von 1918 funktioniert und hoffentlich auch jetzt.
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Wie sehen Sie die politischen Implikationen? In den USA gibt’s im November die Präsidentschaftswahl …
Wer immer im Amt ist, wird, wenn wir einen Impfstoff haben, behaupten, dass er es geschafft hat. Je schneller wir einen Impfstoff haben, desto mehr werden Leute, die derzeit das Risiko laufen, nicht mehr wiedergewählt zu werden, sich auf die Brust schlagen und behaupten, sie hätten das Virus erfolgreich besiegt. Wir wissen beide, dass das nicht der Fall ist und genau diese Leute nichts damit zu tun haben.
Was macht Amerika falsch?
Gehen wir zur Mitte der 2000er-Jahre zurück, als Bush beim Ausbruch von SARS ein Kontroll-Komitee einsetzte. Und dann kam Obama, der ein weiteres Komitee gründete, das einen Schritt weiterging und Viren auf der ganzen Welt beobachte. Die gaben einen Report ab, den niemand beachtete.
Und dann kam Trump, der beide Komiteen auflöste …
Mich kann nichts mehr überraschen. Unser Gesundheitssystem ist armselig, es gibt keine finanzielle Unterstützung für Forschung und Wissenschaft. Daher überrascht es mich nicht, dass es Probleme bei den Tests gibt. Das CDC (Center for Disease Control) hat nicht genug Angestellte. Es gibt keine Unterstützung für Menschen an der Armutsgrenze. Es gibt keine Tests für sie, daher kann man sie auch nicht genügend isolieren. Und mit dem Finger auf China zu zeigen, ist kontraproduktiv. Die sind wesentlich transparenter mit dem Rest der Welt, als sie es 2003 mit SARS waren. Ja, sie sind ein Land von über einer Milliarde Menschen, daher können sie es nicht genau sagen. Aber wovon reden wir Amerikaner? Wir haben ja auch keinen genauen Zahlen. Wir sind ein Land mit 4.000 verschiedenen Gesundheitssystemen, die nicht dieselbe Terminologie verwenden, um die Krankheitssymptome zu beschreiben. Sie tauschen nicht zeitgerecht Daten aus. Daher wissen wir natürlich nicht, was wirklich abgeht. Als ich schon 2010 darauf hinwies, dass es ein schweres Kommunikationsproblem in unserem Gesundheitssystem gibt, und einen Artikel darüber schrieb, weigerte sich die New York Times, ihn zu drucken. Erst, als ich ein Jahr später Berater für einen Hollywoodfilm war, interessierte man sich. Und das auch nur, weil ich sie erpresste und meinte, ich würde nur über „Contagion“ reden, wenn auch alles andere, was ich zu sagen habe, gedruckt wird.
Georgia, Tennessee, South Carolina sind einige der US-Bundesstaaten, die in dieser Woche alles wieder aufsperren wollen, von den Stränden bis zu den Kinos. Was halten Sie davon?
Ich finde das extrem beunruhigend. Die Leute bleiben ja nicht innerhalb der Grenze ihres Bundesstaats. Und dann haben wir Bundesstaaten, die sich strikt an die Ausgangspflicht und die Sperrzonen halten, und auf einmal kommen andere Menschen daher, die exponiert waren und das Virus dann auch dort verbreiten. Das ist ein ungeheures Risiko für uns alle. Die Leute müssen das in ihre Gehirne bekommen: Alles, was wir derzeit haben, um das Virus unter Kontrolle zu halten, ist Isolation und physische Distanz. Und Tests, die uns erlauben, das auf intelligente Weise zu machen. Wenn wir einen Impfstoff haben, wird das alles obsolet werden. Wenn wir die richtigen Medikamente haben, wird es auch anders werden. Aber so weit sind wir noch nicht. Alles, was wir jetzt haben, ist gesunder Menschenverstand. Und dann gibt es Verrückte – besonders unter Jugendlichen –, die sagen, wir sollten Covid-Partys veranstalten, weil wir sind ja jung und gesund. Das ist kompletter Irrsinn.
Was halten Sie von der Verschwörungstheorie, dass Covid-19 in einem chinesischen Labor produziert wurde?
Unsinn. Es gibt keinen einzigen Beweis dafür. Aber es gibt den Beweis, dass Covid-19 in Fledermäusen entstand, und dass die chemisch-genetische Verknüpfung des Virus in Fledermäusen und Menschen dieselbe ist. Diese Viren entstehen in der Natur, und ehrlich gesagt ist das eine Wunde, die wir uns selbst zugefügt haben. Wenn wir unsere Habitate nicht zerstören würden, keine Zwangsmigration hätten, Armut und viele andere Gründe wie Waldsterben, gäbe es viel weniger Risiko. Das sind alles Dinge, die wir uns selbst antun. Wir haben nun alle drei bis fünf Jahre eine Pandemie irgendwo auf der Welt und nun weltweit, das ist eine Steigerung. Wenn wir den Ausbruch erfolgreich kontrollieren und eindämmen, wie wir das mit Lujo in Südafrika taten, dann hört keiner davon. Aber wenn alles schiefgeht, geht die Welt den Bach runter.
Wie sieht die Zukunft aus?
Testen. So viel wie möglich. Die Kurve abflachen. Und dann eine langsame Lockerung des Ausnahmezustands, in dem wir uns befinden. Damit meine ich, eine Rückkehr zu einigen Erfahrungen, die wir kennen, aber sicher nicht sofort das Aufsperren von überlaufenen Bars, Restaurants und Kinos. Und Masken tragen. Im Büro, im Supermarkt, überall, wo wir mit Fremden in Kontakt kommen. Zu einer alten Normalität werden wir erst zurückkehren können, wenn der Impfstoff da ist.
Zur Person
Dr. Ian Lipkin, 67, ist Virologe und Professor an der Columbia Universität sowie Direktor des Zentrums für Infektionen, Immunität, Epidemien und akute chronische Erkrankungen (CRDD). Seine Karriere reicht weit zurück: 1981 begann er, den Ursprung von AIDS zu recherchieren, 1989 identifizierte er das Borna-Virus, später das West-Nil-Virus sowie SARS und MERS. 2011 war er Berater an Soderberghs „Contagion“, dem zurzeit meistgesehenen Film, der schon damals für seine Exaktheit gelobt wurde.
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