Tierorakel: So hoch ist die Trefferquote, wenn Tiere die Zukunft vorhersagen
Frau Mungos Chancen standen 50 : 50. Der Publikumsliebling im Haus des Meeres sollte sich vor den Fußball-Matchs der österreichischen National-Elf für einen Futternapf samt Landesfahne entscheiden und damit den Gewinner anzeigen. Auch Kätzchen Radieschen aus dem Tierquartier Wien und der ausgediente Zuchtstier Sammy auf Gut Aiderbichl spielten hierzulande während der laufenden EM Orakel.
Die falschen Propheten konnten nur Glückstreffer landen. In anderen Belangen stellen Tiere durchaus verlässlichere Prognosen.
Manche Tiere haben einen sechsten Sinn
„Tiere können nicht in die Zukunft schauen, aber manche haben Sinnesleistungen, die gerne als sechster Sinn interpretiert werden“, sagt Matthias-Claudio Loretto. Der Professor am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Vetmeduni Wien verweist auf den Magnetsinn, der tierische Wanderer auf die richtige Fährte bringt. Gerade bei Zugvögeln ist das körpereigene Navi hoch entwickelt; Menschen fehlt dieser innere Kompass.
Andere Arten, darunter das Thermometerhuhn, sind auf Temperaturschwankungen spezialisiert.
Außergewöhnliche Fähigkeiten wie diese rufen seit Jahren Wissenschaftler auf den Plan. Sie versuchen nachzuweisen, dass sich verschiedene Spezies als Katastrophenschützer bei Erdbeben, Vulkanausbruch, Tsunami oder Hurrikan eignen. Eine Herkulesaufgabe.
Tiere haben ein Sensorium, um Vorbeben zu spüren
„Verhaltensbiologen haben vor kurzem Schlangen in Erdbebengebieten Sensoren implantiert“, nennt Loretto ein bodennahes Frühwarnsystem; der Versuch läuft.
Bereits 2018 werteten Experten am Deutschen Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam 180 einschlägige Studie mit rund 700 Beobachtungen aus, um einen statistischen Zusammenhang zwischen seismischen Aktivitäten und dem Verhalten von Tieren, darunter Säuger, Reptilien und Fische, zu prüfen. Ihr Resümee aus Daten aus mehr als 24 Ländern: „Zumindest ein Teil der Fälle, bei denen Tiere als Erdbeben-Warner gehandelt werden, sind als Reaktion auf Vorbeben zu verstehen.“ Einwandfrei abgesichert sind die Ursachen für die Korrelationen aber nicht.
Ziegen und Schafe reagierten sensibel auf Vulkan-Aktivitäten
Am Vulkan Ätna auf Sizilien wiederum wurden Ziegen und Schafe mit GPS-Peilsendern und Bewegungssensoren ausgerüstet. Tatsächlich flüchteten die Paarhufer bei allen größeren Ausbrüchen in den nächsten Unterschlupf. Doch Loretto bleibt vorsichtig: „Die Erkenntnisse sind nicht so weit, dass man sie in der Praxis nützen könnte.“ Der Einsatz lebender Messinstrumente stecke erst in den Kinderschuhen.
Kanarienvögel retteten Bergleute
Zeitgemäß zuverlässig nahmen Bergleute einst Kanarienvögel als Kohlenmonoxid-Detektoren mit zur Arbeit. Sie machten sich die Lungenfunktion der gefiederten Begleiter zunutze, die vergleichsweise mehr Sauerstoff aufnehmen können als das menschliche Atmungsorgan. Strömten giftige Gase durch den Stollen, fielen die Käfigvögel von der Stange – und die Kumpel brachten sich rasch in Sicherheit. „Heute können Tiere mit dem technischen Fortschritt nicht mithalten“, ist Loretto überzeugt.
Genauso wenig würde sich der Verhaltensbiologe auf Wetterfrösche oder US-Murmeltier Phil, das erstmals im Februar 1841 über die Dauer des Winters Auskunft geben sollte, verlassen. Zu viele offene Fragen, zu viel Interpretationsspielraum.
Interpretation von Tierverhalten ist schwierig
So war etwa auch die Wanderung der Rentiere in Kanada längst gut dokumentiert, das Motiv für den Herdentrieb Richtung Norden jedoch immer noch unklar. „Es stellte sich schließlich heraus, dass die Karibus unter anderem vor Stechmücken flüchteten“, macht Loretto deutlich, dass mitunter profane Gründe eine Reaktion auslösen und keine übersinnliche Fähigkeit für die Verhaltensänderung verantwortlich ist.
Heidnische Antike war Hochphase der Tierorakel
In der Vergangenheit wurde die Wahr-Sagung Tieren durchaus zugestanden. Tierisches Verhalten, ihre Knochen und Innereien dienten als Orakel.
„Die ältesten Spuren von Tierorakeln stammen aus China um 1500 v. Chr.“, weiß Bernhard Palme, Professor für Alte Geschichte an der Uni Wien. In der Shang-Dynastie hielten angeritzte und erhitzte Schulterblätter von z.B. Rindern bzw. Schildkrötenpanzer her, um Aufschluss über Feldzüge, Ernteerfolg und den Fortgang der Herrscherfamilie zu geben.
Tierknochen dienten als Würfel
„Aus der griechisch-römischen Zeit sind ,Astragalorakel‘ bekannt“, sagt Palme, der auch Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist. Gefunden wurden nicht nur die quaderförmigen Sprunggelenkknöchelchen von u.a. Schwein, Ziege und Schaf, die als Würfel dienten, sondern auch die schriftlichen Überlieferungen zur Interpretation. Wer sich ein Buch leisten konnte, las die Bedeutung von Zahlen und Ergebnissen aus komplizierten Berechnungen selbst nach.
Aus Fressverhalten wurde auf die Gunst der Götter schlossen
„Im Mittelmeerraum, in Afrika und im Nahen Osten war ,Alektryomantie‘ weit verbreitet“, erklärt Palme weiter. Dabei wurde das Fressverhalten vor allem von Hähnen beobachtet. Je nachdem in welchem Kreissegment am Boden das Federvieh die ausgestreuten Körner pickte, wurde auf die Gunst der Götter geschlossen. Fraß das gefiederte Orakel nichts, stand großes Unheil bevor.
Fischorakel nach ähnlichem Prinzip sind für Kleinasien nachgewiesen.
Auguren interpretierten in politischen Fragen den Vogelflug
„In der römischen Republik deuteten Beamte in allen Staatsangelegenheiten den Vogelflug“, weiß Palme, Leiter der Papyrussammlung der Nationalbibliothek. Die Auguren konnten auf eine lange Tradition blicken. Bereits die Etrusker trafen Entscheidungen aufgrund des Flugs von Taube, Adler und Co.
Zudem gab die Eingeweideschau – „Hieroskopie“ – Auskunft über die Zukunft. Die Bronzeleber von Piacenza war wohl etruskisches Lehrmodell für die Deutung.
Aberglaube konnte sich lange halten
Mit der Ausbreitung des Christentums im 4. und 5. Jahrhundert und dem zunehmend kritischen Denken verloren die Tierorakel an Bedeutung“, sagt Bernhard Palme. Ganz bleiben lassen wollte man sie aber nicht. Vor allem in Krisenzeiten und regional hielt sich der Aberglaube länger.
Heute sollen die tierischen Hellseher in erster Linie Spaß und Werbebotschaften vermitteln.
Kommentare