Warum sich auch Digital Natives nach dem echten Leben sehnen
Handy aus, aber erst nachdem Sie das gelesen haben. Werbungen empfehlen, sich von der Realität mitreißen zu lassen. Sie greifen auf, was in der Luft liegt.
Genug ins Smartphone geschaut. Weg damit. Denn: „Die geilste Auflösung hat immer noch das echte Leben“, konstatiert die Bier-Reklame. Wie wäre es da mit einer Auto-Ausfahrt ins Grüne mit einem SUV? „Gebaut für die echte Welt“, verspricht die Werbung. Kinder sollen sich ihre Welt, anders als die ins Kastl schauenden Erwachsenen, am besten gleich zurechtzimmern – mit analogen Bausteinen: Denn sie haben „The Power of Play“.
Sehnen wir uns nach der echten Welt? Immerhin stellen sie gleich mehrere Werbungen in den Mittelpunkt. „Dass wir mit der ausgedehnten Online-Zeit, die wir am Handy und Computer verbringen, auch spüren, dass uns da Lebenszeit abgezwickt wird, ist ein größer werdendes Thema“, sagt der Werbeprofi Thomas Kratky. Und auch, dass uns „die vielen Tiktok-Videos von Menschen, die wir nicht kennen – und gar nicht kennen wollen – Stunden stehlen“. Da komme Werbung ins Spiel. „Diese versucht, Menschen dort abzuholen, wo sie emotional auch abholbereit sind.“
Mit voranschreitender Digitalisierung ist die Bildschirmzeit in den vergangenen Jahren angestiegen. Nach einer rasanten Zunahme während der Corona-Pandemie dürfte sie aber laut Studien zuletzt wieder zurückgegangen sein
10 Stunden
verbringen die Österreicher im Durchschnitt pro Tag vor dem Bildschirm
84-mal täglich
sollen Menschen laut Studie der TU Wien und AK NÖ aus dem Jahr 2018 auf ihr Smartphone schauen. In wachen Stunden passiert das folglich ungefähr alle 13 Minuten
Nomophobie
So heißt die Angst davor, vom Smartphone getrennt und nicht mehr erreichbar zu sein
300.000 Jahre Natur
Mit einem Trip in die Berge beispielsweise. Oder mit einem Schluck aus der Flasche, während wir der Sonne beim Untergehen zusehen. „In uns wohnt die Sehnsucht, mit der Natur in Kontakt zu sein“, sagt der Psychologe und Autor John Haas von der AG Digitalisierung und E-Mental-Health des Berufsverbandes der österreichischen Psychologen.
Denn immerhin war die Lebenswelt des Homo sapiens auch rund 300.000 Jahre davon geprägt. Gerade in den vergangenen 30 Jahren habe sich das Leben rasant verändert, die Erlebniswelten seien virtualisiert worden. „Das ist kognitiv fordernd, aber sozial verarmend.“ Leicht zu sehen an den Shitstorms, die schnell über Menschen hereinbrechen können. Haas: „Jetzt gibt es das neue Biedermeier, ein ‚Back to Nature‘“.
Und das gibt es offenbar nicht nur bei Menschen, die noch analog aufgewachsen sind: „Bei Jugendlichen, die zu 150 Prozent digital sozialisiert sind, also jungen Menschen, die sich eine Welt ohne Smartphone oder ohne Social Media nicht vorstellen können, gibt es schon so etwas wie eine Sehnsucht nach digitaler Entschleunigung“, erklärt die Jugendforscherin Beate Großegger. Sie sieht die Sehnsucht nach authentischem Erleben. Aber auch eine Herausforderung, vor der die jungen Menschen stehen: „Den digitalen Highspeed mit den Bedürfnissen nach Entschleunigung unter einen Hut zu bringen.“
Fürs Protokoll
Die Umwelt ist stressig, es passiert alles auf der öffentlichen Bühne. Die „Totalprotokollierung des Alltags“, nennt das Großegger. Fotografiert, gefilmt und geteilt wird alles – auch was und wo es früher verpönt war. Während die coolen Club-Menschen noch vor ein paar Jahren die Linsen ihrer Handys abklebten (um sich nicht nur in der Musik zu verlieren und den Moment zu genießen), halten sie heute das Geschehen am Dancefloor fest. Das in dem Bedürfnis nach Gemeinschaft begründeten Verhalten habe sich in den Social Communitys verselbstständigt, erklärt die Forscherin.
Ja, so eine Konkurrenzsituation stachelt an. „Mit der digitalen Technologie wurde es möglich, von einer Wirkungsgesellschaft zur Eindrucksgesellschaft zu werden“, sagt Haas. In einer Wirkungsgesellschaft werde Effekt durch das Auftreten, durch das Gesprochene in der Realität erzielt. „Indem sich das gewandelt hat, gibt es nun einen sozialen Wettbewerb, bei dem ein angenommenes Schönheitsideal verfolgt wird“, erklärt der Psychologe. Das führt mitunter dazu, dass sich zumindest virtuell das Aussehen angleicht.
Alle wirken – mit Kraft der Filter – irgendwie gleich hübsch, aber auch irgendwie fad. „Aber die Eindrucksgesellschaft des Mainstreams löst eine meist kleinere Gegenbewegung aus“, sagt der Psychologe. Dicker Hintern, na und? Falten? Kein Problem! Make-up? Brauchen wir nicht! Gerade erst waren die Lifestyle-Medien hin und weg von Pamela Anderson, die gegen Jugendwahn rebelliere und mehr Natürlichkeit propagiere.
Aber Natur und echtes Leben hin oder her: So ganz wollen die Menschen nicht aufs Virtuelle verzichten. Verständlicherweise. Oder wie Werber Kratky meint: „Und ja, so wie wir Bergverwöhnte stets Sehnsucht nach Meer haben, so romantisch sehen wir auch die ursprüngliche Zeit von früher. Aber in Wahrheit freuen wir uns über jede Diagnose-erleichternde Computertomografie, jedes Airbnb-Angebot, das wir noch in letzter Sekunde in Kroatien buchen konnten, und vieles andere Angenehme mehr.“
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