Psychologe: Darum wird unser IQ immer niedriger
Jakob Pietschnig forscht an der Universität Wien über die menschliche Intelligenz, insbesondere über den sogenannten Flynn-Effekt. Was der bedeutet, erklärt er im Interview. Ebenso verrät er, wie Eltern die Intelligenz ihrer Kinder fördern können, wie man bis ins hohe Alter geistig fit bleibt und welche Mythen sich rund um die Intelligenz ranken.
KURIER: Herr Pietschnig, was bedeutet eigentlich Intelligenz?
Jakob Pietschnig: Es wäre schön, wenn es eine allgemeingültige Definition gäbe – die gibt es leider nicht. Es gibt aber einen Konsens darüber, was Intelligenz kann, wie sie einzuordnen ist und wofür das Ganze brauchbar ist. Eine pragmatische, aber wenig befriedigende Definition ist: Intelligenz ist das, was ein IQ-Test misst. Das kommt der Sache ziemlich nahe, weil es nicht den einen Test gibt, sondern viele Tests, was damit zusammen hängt, dass es verschiedene Facetten der Intelligenz gibt.
Bei einem IQ-Test werden heute also nicht nur Durchschnittswerte errechnet?
Vor 50 Jahren hat man das ausschließlich so gemacht. Heute erstellt man eher Fähigkeitsprofile, die Stärken und Schwächen herausarbeiten, was auch sinnvoll ist. Nehmen wir an, Sie suchen einen Fluglotsen – da ist mir egal, ob er gut in Rechtschreibung ist, er muss eine gute räumliche Vorstellung haben und in der Daueraufmerksamkeit hervorragend sein. Habe ich nur ein Durchschnittswert, nutzt mir das bei der Auswahl nichts.
Wieso wird der Durchschnitts-IQ dann gemessen?
Er gibt am ehesten Aufschluss darüber, was die Schnittmenge aller intelligenten Leistungen einer Person ist – das nennen wir den Generalfaktor der Intelligenz. Der ist bedeutsam, weil alle intelligenten Leistungen positiv miteinander korrelieren. Das heißt: Ein guter Rechtschreiber ist normalerweise ein guter Raumversteher und löst auch mathematische Probleme gut. Diese Tatsache ist eine der am besten erforschten Erkenntnisse in der Psychologie. Im Einzelfall gibt es Ausnahmen, etwa Teilleistungsschwächen wie Legasthenie oder Inselbegabungen, wie man sie aus dem Film Rainman kennt.
Können Eltern die Intelligenz der Kinder beeinflussen?
Bei Kindern ist die Intelligenz nachhaltig veränderbar, weil ihr Gehirn noch plastisch ist – durch kognitive Stimuli lässt sich ihre Intelligenz fördern. Konkret hilft es, mit dem Kind Bücher zu lesen, aber es ist auch nicht problematisch, wenn es ab und zu ins Handy schaut, solange es nicht dauernd daran pickt. Wenn der Bub oder das Mädchen dann ein Rätsel löst, sich mit praktischen Inhalten auseinandersetzt, etwa Radfahren lernt, kann das die Intelligenz steigern. Je vielfältiger die Reize, desto besser.
Kann man so ein Genie produzieren?
Nein, man darf nicht erwarten, dass man durch Förderung ein hochbegabtes Kind bekommt – und das ist auch nicht zwingend notwendig. Ich warne Eltern davor, ein Genie produzieren zu wollen. Wenn man dem Kind das Gefühl gibt, dass es über seine kognitiven Leistungen definiert wird – selbst wenn es hochbegabt ist – führt das zur Abwehr, zur Rebellion und zu Leistungsängsten.
Dennoch sollte man Kinder früh fördern.
Ja, wir wissen, dass Kinder, die im Vorschulalter gefördert werden, zwar nicht unbedingt klüger sind als nichtgeförderte Altersgenossen, aber als Erwachsene erfolgreicher sind – sie haben ein höheres Einkommen, sind gesünder und zufriedener.
Können auch Erwachsene ihre Intelligenz steigern, indem sie etwa Sudokus lösen?
Die Plastizität des Gehirns verringert sich spätestens ab der Pubertät massiv. Spätestens mit Ende der Schulzeit endet dann die Möglichkeit, die Intelligenz nachhaltig zu steigern. Wobei: Ein bisschen etwas kann ich auch als Erwachsener tun, wenn ich etwa Dinge automatisiere. Wenn ich z. B. eine Fremdsprache sehr gut beherrsche, kann ich Probleme besser lösen, weil ich nicht dauernd nachdenken muss, welche Vokabeln was bedeuten. Wenn ich später im Pensionsalter den Abbau verhindern will, wirken die gleichen Faktoren wie bei Kindern – heute löse ich ein Sudoku, dann lerne ich ein Gedicht auswendig, am nächsten Tag verreise ich. Den Intelligenzabbau kann ich da bis zu einem gewissen Grad aufhalten, bei Alzheimer und Demenz funktioniert das nicht nachhaltig.
Rund um die Intelligenz und ihre Steigerung gibt es auch viele Mythen. Mit welchen möchten Sie aufräumen?
Ein Mythos ist der Mozarteffekt, der besagt, dass Kinder schlauer werden, wenn sie Musik des Komponisten hören. Der andere Mythos ist, dass wir nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen. Beide Mythen sind längst wissenschaftlich widerlegt. Übrigens: Der IQ sagt auch nichts über die Persönlichkeit eines Menschen aus.
In Industrieländern sinkt der IQ der Bevölkerung plötzlich, nachdem er lange gestiegen ist – wie kommt es zum sogenannten Anti-Flynn-Effekt?
Die verkürzte Antwort lautet: Heute gibt es mehr Spezialisten und weniger Generalisten. Ich vergleiche das gerne mit dem Zehnkampf: Der Sportler bekommt in jeder Disziplin Punkte – die Summe davon ist sein Ergebnis. Manche trainieren z. B. intensiv die Laufdisziplinen, andere das Werfen, und so wird jeder in seinem Bereich besser, wodurch sich die Gesamtleistung jedes Sportlers und auch aller Sportler erhöht. Das passiert so lange, bis alle so spezialisiert sind, dass es keine Allrounder mehr gibt. Die Gesamtleistung der Sportler wird geringer. Heute spezialisieren sich die Menschen in ihrer Ausbildung immer mehr – der Zusammenhang zwischen den einzelnen Fähigkeiten, von denen wir anfangs geredet haben, wird schwächer. Legen Sie diese Erkenntnis auf die Intelligenz um – und zwar als Wettbewerb zwischen den verschiedenen Generationen – das ist die Umkehr des Flynn-Effekts.
Buchtipp: Jakob Pietschnig: „Intelligenz“, ecowin Verlag. 216 Seiten, 24 Euro.
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