Rückblick
Palästina vor etwa 1.300 Jahren: Ein Schreiber sitzt mit gebeugtem Kopf über einem Evangelienbuch, das mit einem syrischen Text beschriftet ist. Weil Pergament in der Wüste kostbar und Mangelware ist, radiert der Mann die Buchstaben einfach aus und hält auf dem kostbaren Blatt eine neue Geschichte fest. Text liegt über Text. Palimpseste nennt das die Wissenschaft und hat eine Möglichkeit gefunden, die verlorenen Schriften wieder sichtbar zu machen.
In der Bibliothek des Katharinenklosters am Sinai – Weltkulturerbe aus dem 6. Jahrhundert, in dem sich der brennende Dornbusch befunden haben soll – lagern mehr als 4.000 Handschriften in 13 Sprachen: Viele Pilger kamen hierher, haben Handschriften mitgebracht und Texte von dort kopiert. Jahrelang hat Rapp, Wittgenstein-Preisträgerin und Professorin für Byzantinistik an der Uni Wien, ein internationales, interdisziplinäres Forschungsteam geleitet, das den berühmten Schriften vom Sinai ihre Geheimnisse entlocken wollte.
Wann immer die Forscher vermuten, dass sich unter einem Text auf Pergament ein weiterer ausradierter finden könnte, legen sie das Blatt unter die Multispektral-Kamera, denn die ausradierten Textschichten seien im Original weniger gut zu sehen, als wenn man sie mit Spektralfotografie aufnimmt. „Wir machen 33 Aufnahmen mit Licht unterschiedlicher Wellenlänge. So wird die Oberflächenstruktur sichtbar“, sagt Historikerin Rapp.
Auch im Vatikan geht man mit der Zeit, geforscht wird online, und die Vatikan-Bibliothek stellt viele Handschriften virtuell und weltweit zur Verfügung. So auch das oben angesprochene Palimpsest. Und so ist Grigory Kessel, der Manuskript-Jäger, in Wien spätestens dann alarmiert, als er die dazugehörigen, ebenfalls online zugänglichen, Ultraviolettbilder sieht. Rasch erkennt sein durch das Projekt im Katharinenkloster am Sinai geschulter Kennerblick ausradierte Buchstaben.
Das Pergament ist in drei Schichten beschrieben: Kessel bearbeitet die unterste, syrische, ein Kollege übernimmt den griechischen Text in der Mitte und ein anderer den zuoberst liegenden, georgischen Text.
Das kleine Handschriftenfragment entpuppt sich als wichtiges Puzzleteil der Bibel-Geschichte: Die aus dem 3. Jahrhundert stammende syrische Übersetzung – deren Existenz bisher nur aus der indirekten Überlieferung, also aus Zitaten in anderen Werken bekannt ist – wurde mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten griechischen Handschriften verfasst.
Kessel erklärt: „Bis vor Kurzem waren nur zwei Handschriften bekannt, die altsyrische Übersetzung der Evangelien enthalten.“ Eine wird in London aufbewahrt, die Zweite im Katharinenkloster auf dem Berg Sinai. Unlängst wurde im Rahmen des „Sinai Palimpsests Project“ eine dritte Handschrift identifiziert. Das jetzt entdeckte Bibelfragment aus dem Vatikan sei so spannend, weil es mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Handschriften verfasst wurde. So rücke man dem Ursprungstext der Evangelien immer näher.
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