Geheimprojekt Dionysos: Verschollene Geschichte war unter einem Text versteckt
Im Katharinenkloster am Sinai hat Giulia Rossetto von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die lange verlorene antike Geschichte von Dionysos und den Titanen aufgespürt.
Seit 2017 plagte sich Giulia Rossetto mit zwei Blättern dicht beschriebenem Pergaments herum. Ab dem Zeitpunkt, da die junge Forscherin vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) statt biblischen Protagonisten Namen wie Zeus, Persephone, Aphrodite und Dionysos auf der alten Handschrift entdeckt hatte, herrschte höchste Geheimhaltungsstufe: „Wir wollten sicher gehen, dass die Entdeckung mit ihrem Namen darauf publiziert ist, denn es handelt sich um einen besonderen Fund – spektakulär – könnte man fast sagen“, erzählt Claudia Rapp, die wissenschaftliche Direktorin des Projekts.
Rossetto hat nicht mehr und nicht weniger als einen bisher unbekannten mythologischen Text aus der Antike entdeckt, etwas das nur äußerst selten vorkommt.
Rückblick
Das Katharinenkloster am Sinai. In der Bibliothek des berühmten Weltkulturerbes aus dem 6. Jahrhundert, in dem sich der brennende Dornbusch befunden haben soll, lagern mehr als 4.000 Handschriften in 13 Sprachen: Viele Pilger kamen hierher, haben Handschriften mitgebracht und Texte von dort kopiert. Jahrelang hat Claudia Rapp, Wittgenstein-Preisträgerin und Professorin für Byzantinistik von der Universität Wien, ein internationales, interdisziplinäres Forschungsteam geleitet, das den berühmten Schriften vom Sinai ihre Geheimnisse entlocken wollte – Texte unter den Texten. Palimpseste nennt das die Wissenschaft.
Palimpseste sind wiederbeschriebene Lederseiten, von denen die ursprüngliche Tintenschrift wegradiert oder -gespült wurde, um sie dann neu zu beschreiben. Eine Art von unfreiwilliger Zensur nennt es Rapp – Texte, die man nicht mehr brauchte.
Das Sinai Palimpsests Project hat zum Ziel, die jahrhundertealten wertvollen Palimpsest-Handschriften des Katharinenklosters in Ägypten wieder lesbar und in digitaler Form verfügbar zu machen. Bisher konnten bereits 74 Handschriften entziffert werden. Claudia Rapp von der Universität Wien und der Östereichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist die wissenschaftliche Direktorin des Projekts.
„Wenn wir vermuten, da könnte was drunter sein, legen wir das Blatt unter die Multispektral-Kamera; wir machen 33 Aufnahmen mit Licht unterschiedlicher Wellenlänge. So wird die Oberflächenstruktur sichtbar“, erklärt Rapp. Dann nehmen Computer-Experten in den USA die digitalen Aufnahmen in Augenschein. Sie haben verschiedene Methoden entwickelt, um die untere Schrift mühsam von der oberen zu trennen.
So auch beim aktuellen Fund geschehen: „Der Text ist sehr schlecht erhalten, kaum Wörter, eher Buchstaben, das zu entziffern war schwierig“, erzählt Rossetto. „Ursprünglich dachten wir, es handle sich um einen Bibeltext, nichts Ungewöhnliches also.“
Rasch war klar, dass sie da etwas besonders vor sich hatte, denn Aphrodite, Persephone, Dionysos und Zeus kommt nur selten in Palimpsesten vor.
Rossetto: „In dem poetischen Text in Hexametern, also dem klassischen Versmaß der epischen Dichtung, geht es um die Kindheit des Gottes Dionysos. Hier ist nachzulesen, dass er der Sohn von Persephone und Zeus war. Schon als Kind saß er auf einem Thron und mythologische Wesen tanzen um ihn herum. Die bösen Titanen aber trachteten ihm nach dem Leben. Mit Spielzeug, Obst und Gemüse lenken sie ihn ab und versuchten, ihn zu überlisten.“
Die Geschichte von Dionysos’ Kindheit sei zwar bekannt gewesen, hätten doch mehrere Autoren daraus zitiert.
Rossetto: "Das Originalwerk Orpheus zugeschrieben - immerhin 24 Bände - war aber verschwunden. Jetzt haben wir zwei Seiten davon".
Orpheus war ein Sänger und Dichter der griechischen Mythologie. Auf ihn beriefen sich die Orphiker und sahen in ihm den Urheber ihrer Lehren und den Autor der orphischen Schriften.
Der Schriftstil des Textes aus der Zeit Homers deutet darauf hin, dass er noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten kopiert wurde. Dazu Rapp: „Kulturgeschichtlich ist diese Entdeckung von größtem Interesse, denn sie zeigt, dass noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten aktives Interesse an religiösen Texten aus der heidnischen Antike bestand, zu einer Zeit also, als das Christentum dabei war, sich im Römischen Reich fest zu etablieren.“
„Fragments from the Orphic Rhapsodies? Hitherto Unknown Hexameters in the Palimpsest Sin. ar. NF 66“ ist jetzt in der "Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik" erschienen.
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