Der Mathematiker analysierte gemeinsam mit seinem Team die Zahl der Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern in Österreich, darunter die vier größten: Ukraine, Deutschland, Syrien und Serbien. Das Modell basiert auf jenen Menschen, die sich im November 2022 hierzulande aufhielten, sowie jenen, die 200 Tage später ins Land kamen. Insgesamt wurden die Daten von 1,5 Millionen in Österreich lebenden im Ausland geborenen Personen miteinbezogen.
Nicht die Entfernung ist entscheidend, sondern wer bereits am Zielort lebt
In einem zweiten Schritt versuchte man das Modell auf die USA zu übertragen. "Wir hatten die Daten mehrerer Jahre aus den USA zur Verfügung und konnten die Migrationsbewegungen sehr gut abschätzen. Es zeigte sich zum Beispiel, dass Menschen aus Südamerika viermal häufiger nach Miami oder Los Angeles gehen als nach Houston, obwohl Houston viel näher wäre", schildert Prieto-Curiel.
Erklärung dafür ist das, was sich mit dem Sprichwort "Gleich und gleich gesellt sich gern" zusammenfassen lässt: Wo bereits viele Menschen eines Herkunftslandes leben, werden sich eher weitere derselben Nationalität ansiedeln. Dabei geht es nicht nur um Familie oder Freunde, sondern allgemein Landsleute. "Wir können beobachten, dass es selbst mit sehr wenigen Informationen – nämlich der Nationalität der Menschen und der Größe der entsprechenden Diaspora in einer bestimmten Zielregion – möglich ist, Migrationsbewegungen mit einem hohen Grad an Genauigkeit zu rekonstruieren und auch vorherzusagen", sagt Prieto-Curiel. Informationen über die Wirtschaft des Landes, das Alter, das Geschlecht oder die Sprache der Person seien für die Berechnung nicht erforderlich.
Bisherige Modelle berücksichtigen den sozialen Einfluss zu wenig
Dem bisher am weitesten verbreiteten Ansatz zur Prognose von Migrationsströmen – dem sogenannten Gravitationsmodell – fehlen laut den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern viele Komponenten. Dieses Modell geht davon aus, dass bevölkerungsreichere Orte mehr Migrantinnen und Migranten anziehen und dass die Interaktion und die Bewegungen zwischen ihnen umso größer sind, je näher zwei Orte beieinanderliegen. Tatsächlich sei aber der soziale Einfluss größer. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Diasporas einen Pull-Effekt haben: 100 Menschen ziehen im Falle Österreichs etwa 12 Neuankömmlinge pro Jahr an", erläutert Prieto-Curiel.
Abgesehen von Ereignissen wie Kriegen, ein aktuelles Beispiel ist der Ukraine-Krieg, seien Migrationsmuster im Durchschnitt recht vorhersehbar und über die Zeit stabil.
Häufung von Menschen bestimmter Herkunftsländer in bestimmten Bezirken
Ein weiterer Aspekt, den die Forschenden untersuchten: Menschen, die migrieren, neigen dazu, in bestimmten Vierteln einer Stadt zu leben. Eine unbeabsichtigte Folge davon sei Segregation, dass also etwa in bestimmten Stadtvierteln viele Migranten bestimmter Herkunftsländer leben, während das in anderen Vierteln weniger der Fall ist.
Prieto-Curiel: "Das hat zum Beispiel mit dem individuell zur Verfügung stehenden Budget, den Mietkosten in einem Bezirk, der Art der Geschäfte und Lokale zu tun." In den Wiener Bezirken zeige sich, dass Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer in bestimmten Bezirken eher wohnen als in anderen. Deutsche Studierende, so Prieto-Curiel, leben etwa eher in Uni-Nähe, wo sie sich mit dem Rad oder zu Fuß bewegen können. Menschen aus Syrien oder der Ukraine lassen sich eher im 10. oder 22. Bezirk nieder. "Über viele Jahre entsteht eine Nachbarschaft, die weitere Migranten, die nach Wien kommen, anzieht. Migranten wollen nicht unbedingt von ihrer Diaspora umgeben sein, aber häufig sind sie es", sagt er.
Das mathematische Modell verdeutliche diese Herausforderung. Es entstünden Gemeinschaften, die eine Integration in das nationale Leben erschweren. Dem entgegenwirken könnte, wenn Menschen die Möglichkeit geboten wird, andere zu treffen, die anders sind als sie selbst und Kontakte zu ihnen zu knüpfen. Dies könne etwa über den Bau von Straßen oder Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen verschiedenen Teilen der Stadt gelingen sowie über eine gleichmäßige Verteilung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung auf die Bezirke. Ebenso sei es zentral, zu vermitteln, dass Vielfalt willkommen ist.
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