Im Dezember 1914 belauern einander Briten und Deutsche nahe der flandrischen Stadt Mesen. Hüben wie drüben Matsch und Elend. Der Erste Weltkrieg ist gerade fünf Monate alt und die Soldaten auf beiden Seiten der Front sind erschöpft und desillusioniert. Ihre Regierungen hatten ihnen versprochen, dass der Krieg rasch siegreich vorbei wäre und sie Weihnachten wieder zu Hause sind. Nun sitzen sie in kalten und schlammigen Gräben fest. Hunderttausende ihrer Kameraden sind gefallen.
"Kein Schuss"
Am 24. Dezember hat der ständige Regen endlich aufgehört. Die 2. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 134 von Leutnant Kurt Zehmisch hat am Heiligabend in ihren Stellungen einen Gabentisch mit Lebkuchen und Stollen aufgebaut. Sogar Miniaturweihnachtsbäume haben es an die Front geschafft. Nach dem Gottesdienst befielt Zehmisch, im Zivilleben Studienrat, seinen Männern, dass „heute am Heiligen Abend und an den Weihnachtsfeiertagen kein Schuss von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist“.
Aus ihrem Schützengraben heraus nimmt Zehmisch, der sehr gut Englisch spricht, Kontakt zu den Briten auf. Es entwickelt sich „eine ganz spaßige Unterhaltung“, wie der deutsche Offizier in seinem Tagebuch festhält. Je zwei Sachsen und zwei Engländer treffen sich im Niemandsland. Es werden Zigaretten und Zigarren getauscht. Alle Soldaten beider Seiten wünschen sich lautstark „A Merry Christmas“.
An vielen Stellen der Front, nicht nur hier, geschieht ein ähnliches Weihnachtswunder, wie es später genannt wird.
„Es war eine spontane Fraternisierungen zwischen Deutschen und Briten, ein spontaner Ausdruck von Menschlichkeit im Horror der Schützengräben“, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx.
Soldaten wagten sich von beiden Seiten aus ihren Schützengräben. Beim Dorf Fromelles südlich von Ypern wird ein gemeinsamer Gottesdienst gefeiert, Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte …“) wird gesprochen, zuerst auf Englisch, dann auf Deutsch. Soldaten, die eben noch aufeinander geschossen hatten, tauschten kleine Geschenke und ihre Adressen aus und verabredeten sich für die Zeit nach dem Krieg.
Erstmals seit Wochen empfinden sie so etwas wie Glücksgefühle. Ein Soldat des bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiments schreibt später seinen Eltern über ein Treffen mit britischen Soldaten im Niemandsland: „Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“
Friseur und Fußball
Die Verbrüderungen setzen sich auch am Ersten Weihnachtsfeiertag fort. Auf einem gefrorenen Acker vor dem englischen Schützengraben zwischen Lille und Armentières bietet der britische Soldat Jack Reagan Freund und Feind für ein paar Zigaretten seine Friseurdienste an. Sogar mehrere Fußballspiele werden im Niemandsland ausgetragen. Leutnant Zehmisch schreibt in sein Tagebuch, dass „ein paar Engländer einen Fußball aus ihrem Graben gebracht [hätten] und ein eifriges Fußballwettspiel begann.“
Tausende Soldaten beiderseits der 800 Kilometer langen Westfront beteiligten sich an dieser „Friedensbewegung“, schreibt der Publizist Michael Jürgs in seinem Standardwerk zum Weihnachtsfrieden 1914 Der kleine Frieden im Großen Krieg.
Die Verbrüderungen mit dem Feind ist nicht von außen oder oben angeordnet und auch nicht autorisiert gewesen.
von Barbara Stelzl-Marx
Historikerin
Sehr zum Ärger ihrer Vorgesetzten in den höheren Stäben machten keineswegs nur einfache Soldaten mit, sondern auch Frontoffiziere. Die Befehlshaber auf beiden Seiten versuchten durch Androhung rigoroser Strafen jede Verbrüderung mit dem Feind zu unterbinden. Auf deutscher Seite wurden sogar besonders aufsässige Regimenter aufgelöst und mit unverbrauchten Truppen aus dem Hinterland gemischt. 1915 wurde das Singen von Weihnachtsliedern im Schützengraben, das 1914 vielfach der Auslöser für die Verbrüderung war, untersagt. Trotzdem kam es auch 1916 und 1917 an der Ostfront zu Waffenstillständen von unten.
Nachwirkung
Übrigens echauffiert sich 1914 auch ein Gefreiter des südlich von Ypern liegenden 16. Bayerischen Reserve-Infanterieregiment über den Weihnachtsfrieden: Es sei auf das Schärfste zu missbilligen, dass deutsche und britische Soldaten im Niemandsland miteinander Weihnachtslieder sängen, statt aufeinander zu schießen. 19 Jahre später wird dieser Gefreite an die Spitze des Deutschen Reiches gespült. Sein Name: Adolf Hitler.
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