Häufiger als gedacht: Wenn auf das Wunschkind ein Wunderbaby folgt

Plötzlich zu viert: Eine Studie deutet darauf hin, dass eine natürliche Zeugung nach einer künstlichen Befruchtung alles andere als selten ist.
Wenn ungewollt kinderlose Paare Startschwierigkeiten mittels künstlicher Befruchtung überwunden haben, zeugen sie oft auf natürlichem Weg ein Baby – deutlich häufiger als bisher angenommen.

Die Chance, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, sei gleich null. Das teilte man Shema Tariq mit, als bei ihr eine niedrige Eierstockreserve diagnostiziert wurde. Also versuchte sie es mit künstlicher Befruchtung. Heute ist die britische Ärztin Mutter von zwei Kindern im Alter von drei und vier Jahren. Bis ihr Sohn mittels künstlicher Befruchtung gezeugt werden konnte, "brauchte es sechs Anläufe", erinnert sich die heute 43-Jährige.

Nach der Geburt habe ihr Arzt kurz das Thema Verhütung angeschnitten. Sie habe nicht weiter darüber nachgedacht: "Ich dachte, dass es nicht relevant sei."

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Nur acht Monate später wurde Shema Tariq erneut schwanger – auf vollkommen natürlichem Weg. "Das war eine wunderbare Überraschung, aber als wir davon erfuhren, fühlte ich mich überfordert und unvorbereitet auf eine weitere Schwangerschaft."

Unerwartete Schwangerschaften sind keine Seltenheit

Shema Tariqs Geschichte ist Teil einer neuen Forschungsarbeit, die kürzlich vom University College London im Fachblatt Human Reproduction veröffentlicht wurde. Was ihr passiert ist, ist keine Seltenheit, zeigt die Studie.

Etwa eine von fünf Frauen wird nach einer geglückten Erstschwangerschaft durch künstliche Befruchtung auf natürlichem Weg schwanger. 

Sowohl in der Wissenschaftsgemeinde als auch in Laienkreisen herrschte bisher aber eher die Auffassung, dass eine natürliche Befruchtung nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF) ein seltenes Ereignis ist. Ein Team um die Reproduktionsmedizinerin Annette Thwaites konnte jedoch konkret zeigen, dass unter 5.000 Frauen, die für ihr erstes Kind eine künstliche Befruchtung in Anspruch nahmen, 20 Prozent innerhalb von drei Jahren danach regulär schwanger werden konnten.

Warum gab es bisher kaum aussagekräftige Daten dazu? "Um die natürliche Schwangerschaftsrate nach einer künstlichen Befruchtung statistisch auszuwerten, müssen betroffene Paare jahrelang verfolgt werden, auch wenn sie sich nicht mehr in laufender Behandlung befinden", erklärt Michael Feichtinger, Leiter des Wiener Wunschbaby Institut Feichtinger. Das sei eine Herausforderung. Bisher durchgeführte Studien hätten deshalb "vorwiegend lückenhafte Daten beziehungsweise eine sehr kurze Nachverfolgungszeit aufgewiesen".

Die nun erhobenen Zahlen haben den österreichischen Fruchtbarkeitsexperten, der selbst immer wieder Jahre nach erfolgreicher Behandlung frohe Neuigkeiten ehemaliger Patientinnen überbracht bekommt, überrascht: "Die Ergebnisse sind definitiv höher als erwartet."

Große Analysen legen tatsächliche Zahlen offen

Die Forschungsgruppe um Thwaites analysierte Daten aus insgesamt elf Studien mit mehr als 5.000 Frauen aus allen Teilen der Welt zwischen 1980 und 2021. Das Gros der Probandinnen war nicht dauerhaft unfruchtbar, sie wurden nur nicht innerhalb eines erwarteten Zeitfensters schwanger. Die WHO spricht etwa von Unfruchtbarkeit, wenn auch bei regelmäßigem, ungeschützten Geschlechtsverkehr über einen längeren Zeitraum – ein Jahr oder länger – keine Schwangerschaft zustande kommt.

Lediglich eine geringe Zahl der Teilnehmerinnen unterzog sich der IVF-Behandlung aus Gründen, die nicht mit Unfruchtbarkeit zusammenhängen. Etwa weil sie in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben oder alleinerziehend sind.

Ursachen liegen in verschiedenen Bereichen

Studienleiterin Thwaites vermutet, dass Fruchtbarkeitsbehandlungen eine natürliche Empfängnis fördern, die Eierstöcke also nachhaltig anregen: "Es ist biologisch plausibel, dass die Stimulation der Eierstöcke durch IVF-Zyklen ihre Funktion verbessert", sagt Thwaites, die es auch für denkbar hält, dass hormonelle Veränderungen während der Schwangerschaft die Rutsche für eine natürliche Zeugung legen.

Dem pflichtet Feichtinger bei. "Im Rahmen der Schwangerschaft ändert sich unglaublich viel im weiblichen Körper. Der Körper und das Immunsystem 'lernen' schwanger zu sein und sogar verschlossene Eileiter können sich wieder eröffnen", erklärt er. Auch von männlicher Seite könne sich im Laufe der Zeit ein eingeschränkter Samenbefund wieder verbessern "und beim zweiten Kind wieder ausreichend gut für eine natürliche Zeugung sein".

Nicht zu vergessen: die psychische Komponente. So falle nach der Geburt der Druck, den ein unerfüllter Kinderwunsch mit sich bringt, von den Frauen und Männern ab. "Das kann eine wesentliche Rolle spielen."

Gerade jüngere Paare dürfen sich laut Feichtinger deshalb durchaus Hoffnung machen, dass das zweite Kind auf natürlichem Weg entsteht. "Insbesondere bei Paaren über 35 Jahren, welche ein zweites Kind anstreben würde, ich jedoch dazu raten frühzeitig wieder einen Experten aufzusuchen und sich beraten zu lassen, um nicht unnötig wertvolle Zeit zu verlieren."

Global haben bis zum heutigen Tag mehr als zehn Millionen Babys via IVF das Licht der Welt erblickt. Für all diese Familien – und alle, die noch folgen werden – sind Thwaites Erkenntnisse enorm relevant. "Zu wissen, was möglich ist, würde Familien ermächtigen, fundierte Entscheidungen über weitere Fruchtbarkeitsbehandlungen und/oder Verhütungsmittel zu treffen", präzisiert die Forscherin.

Nicht zuletzt geben sie Paaren auch Hoffnung, ergänzt Feichtinger. "Selbst wenn sich der Weg zum ersten Kind mühsam gestaltet hat, gibt es die Chance, dass es beim zweiten Kind ganz natürlich klappen kann."

Auch Shema Tariq hätte das gerne früher gewusst. "Wäre mir das bekannt gewesen, hätte ich verhütet, bis ich emotional als auch körperlich für ein zweites Kind vollkommen bereit gewesen wäre."

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