KURIER: Wie schätzen Sie die Zulassung der Genschere zur Behandlung der beiden Blutkrankheiten ein?
Hengstschläger: Das ist wirklich ein enorm wichtiger Schritt in der Medizin und Genetik. Gerade bei monogenen Erkrankungen, bei denen ein einziges Gen kausal ist, ist das eine sehr vielversprechende Technologie. Es gibt tausende derartige Erkrankungen – man kann nicht sagen, dass die Genschere für alle die Lösung ist, aber in der Zukunft ist dieses therapeutische Konzept auch für viele andere Erkrankungen denkbar und verändert das Fach der Genetik grundlegend.
Inwiefern?
Bisher wurden Genetiker im klinischen Bereich überwiegend für Beratung und Diagnostik hinzugezogen, nun zeigt sich ihre Bedeutung für die Entwicklung neuer Therapien. Zudem ist die Genschere ein perfektes Beispiel dafür, wie Wissenschaft wirkt. In Zeiten, in denen viele Menschen der Wissenschaft sehr kritisch gegenüberstehen, zeigt die neue Behandlung, wie wichtig Grundlagenforschung ist. Ohne diese jahrelange Forschung wäre es nicht möglich gewesen, die Therapie zu entwickeln. Das ist ein erneuter Beweis in der Geschichte der Menschheit, dass der Weg erfolgreich auf diese Weise beschritten werden kann.
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Ist die Technologie schon so weit?
Darüber muss man immer nachdenken. In den Zulassungsstudien wurden die Teilnehmer über einen kurzen Zeitraum nachbeobachtet, allerdings wurden keine schweren Nebenwirkungen beobachtet. Es werden Zellen des Menschen entnommen, im Labor genetisch verändert und wieder injiziert. Hier kann es zu so genannten Off-Target-Effekten kommen. Das heißt, es kann passieren, dass es auch an anderen als an den gewünschten Stellen zu genetischen Veränderungen kommt. Diese Effekte werden aber immer besser verstanden und erforscht. Off-Target-Effekte muss man mittels Studien im Auge behalten und optimieren. Auch in der aktuellen Studie wurde dieses Risiko bewertet. In den Zulassungsstudien wurden rund 50 Patienten behandelt. Die Ergebnisse sind sehr gut. Ich bin zuversichtlich, dass die Therapie längerfristig funktioniert und gehe davon aus, dass auch in der EU bald eine Zulassung erfolgt.
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Ist mit Nebenwirkungen zu rechnen?
Da es sich um eine ex vivo Gentherapie handelt, das heißt, es werden menschliche Zellen entnommen, genetisch verändert und wieder rückgeführt, müssen die vorhandenen defekten Zellen im Körper unterdrückt werden. Dies geschieht über eine Chemotherapie mit ihren bekannten Nebenwirkungen. Das Ziel ist, die krankhaften Blutstammzellen abzutöten. Die Chemotherapie wirkt aber auf alle Zellen im Körper, auch auf die Zellen, aus denen Ei- und Samenzellen entstehen, sodass es zum Verlust der Fruchtbarkeit kommen kann.
In Österreich ist die Reaktion oft verhalten, wenn es um den Eingriff in die Gene geht.
Es gibt Gründe vorsichtig zu sein. Allerdings finde ich es immer noch überraschend, wie negativ Genetik in Österreich oft gesehen wird. Wichtig ist, ihre Bedeutung klarzumachen, vor allem die großen Chancen der praktischen Anwendung. Man muss aber Grenzen setzen. Diese Grenzen liegen bei der Keimbahntherapie, die letztendlich auch Samen- und Eizellen betreffen und schon früh beim Embryo ansetzen würde. Derartige genetische Veränderungen würden an Nachkommen weitergegeben und sind in Österreich nicht erlaubt. Auch international besteht breiter Konsens darüber, dass dies aktuell nicht erwünscht ist, da eine Folgenabschätzung nicht möglich ist.
Die Therapie kostet derzeit mehr als zwei Millionen Euro pro Patient. Warum?
Die Forschung an seltenen Erkrankungen ist sehr spezifisch und teuer, das schlägt sich im Preis der Therapie nieder. Wie bei allen anderen Innovationen wird sie über die Jahre billiger werden, aber wir sehen jetzt die ersten Schritte. Wenn die Gentherapie zugelassen ist, sollten die Kosten dafür übernommen werden, vor allem wenn es derzeit keine Therapie mit vergleichbaren Ergebnissen gibt. Es ist aber noch viel weitere Forschung notwendig, um abzuklären, bei welchen Patienten welche Ergebnisse nachhaltig erzielt werden können.
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