Die Wurzeln des „schwedischen Staatsindividualismus“ (die beiden Historiker Henrik Berggren und Lars Trägårdh prägten den Begriff in ihrem Buch Ist der Schwede ein Mensch?) reichen weit zurück. Die Eckpfeiler: ein starker Staat, einst vom König verkörpert, ein Bauernstand, der nie der Leibeigenschaft unterworfen war und ihr gemeinsamer Feind – die Adeligen.
Letzeren sprachen Literaten im 19. Jahrhundert das Nationalgefühl ab, weil sie nicht arbeiten. In seinem Roman „Es geht doch“ entwarf C. J. L. Almqvist schon 1839 ein Programm für den Umbau von Gesellschaft und Familie. Motto: gemeinsame Liebe, getrenntes Eigentum. In den 1930er-Jahren trieben die Sozialdemokraten unter dem Ministerpräsidenten Per Albin Hansson diese Entwicklung voran. Sie spielten die nationale Karte aus, verabschiedeten sich vom Marxismus und setzten auf die Zusammenarbeit mit dem Bauernverband. Folkhemmet (Volksheim) statt Klassenkampf.
Die Idee dahinter beschreiben Berggren und Trägårdh so: Niemand sollte von einem andern abhängig sein, weder die Frau vom Mann, noch der Greis von seinen Kindern, noch der Student von den Eltern. Der Staat ermöglicht die „maximale Befreiung von traditionellen Gemeinschaftsbanden“. Ob getrennte Besteuerung von Paaren oder Kindertagesstätten – die Wohltaten standen allen zu, ohne Bedarfsprüfung. „Schwedische Liebe“ beruhe nicht auf Abhängigkeit, sondern auf Respekt vor der Autonomie des anderen, schreiben Berggren und Trägårdh.
Die Schweden haben eine lange Tradition des Vertrauens in den Staat, sagt auch Schriftstellerin Åsbrink: Das gehe bis auf den schwedischen Gründervater Gustav Wasa zurück, der die Staatsgewalt vor einem halben Jahrtausend zentralisierte. „Beim Aufbau des Wohlfahrtsstaats in den Dreißigerjahren lernten die Schweden dann erneut, klaren Anweisungen zu folgen, um die Gesellschaft planmäßig zu verändern. Das sitzt tief.“ Der Staat sei so etwas wie die Eltern der Schweden.
Ab den 1970er-Jahren kam das Folkhemmet als bürokratisches Monstrum unter Druck. Zu viel System, zu wenig Menschlichkeit. Migration und tiefgreifende kultureller Unterschiede setzten dem „Volksheim“ zu. Parallel-Kulturen entstanden.
Kratzer im Image
Und so kam es, dass Corona vor allem Migranten (und Ältere) traf. Die Erstgenannten leben auch in Schweden oft dicht gedrängt in den Vororten der großen Städte. Der Stockholmer Stadtteil Rinkeby steht sinnbildlich für den Mix aus günstigem Wohnraum, hohem Migrantenanteil und teilweisem Rückzug des Staates. Das kratzt am Image, denn bisher sah man sich als „humanitäre Supermacht – als ein Land, das genau weiß, was richtig und was falsch ist“, sagt Åsbrink.
Ambivalent
Die bisherigen Ergebnisse des schwedischen Sonderwegs haben diese Gewissheit vertrieben. Vieles ist ambivalent. So lobt Karlsson, „dass man sich in Schweden bemüht habe, den Kindern während der Krise ein normales Leben zu ermöglichen – Schulen und Kindergärten waren offen. Kein Kind sollte verloren gehen. Musste eine Schule geschlossen werden, gab es digitalen und Kleingruppenunterricht.“ Das Modell der Kleingruppe geht übrigens auf die Wiener Schulreform der 1920-er Jahre zurück, das Elsa Köhler, eine österreichische Reformpädagogin, nach Schweden gebracht hatte.
Auch die ökonomischen Folgen der Krise blieben vorerst geringer als in anderen europäischen Ländern. Viele coronabedingte Todesfälle trüben die vorläufige Bilanz. Karlsson: „Eine endgültige Aussage über das schwedische System wird erst viel später zu machen sein. Vor allem die Auswirkungen auf die Demokratie und den Zusammenhalt in der Gesellschaft.“
Letztlich steht also auch das Volksheim auf dem Prüfstand.
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