Bildungsforscherin: „Lesen muss man wie Sport trainieren“
Lesen ist ein Grundpfeiler unserer Kultur. Es eröffnet die Welt zur Bildung, zur Kunst, zur Gesellschaft, zum Leben überhaupt. Umso erschreckender, dass viele junge Menschen nicht lesen können. Am Ende der Volksschule schaffen 25 Prozent die Bildungsstandards nur teilweise, 13 Prozent gar nicht. In der achten Schulstufe ist es noch dramatischer: Da sind es in Summe 45 Prozent der Jugendlichen, die Probleme haben. Was zu tun wäre, erläutert Andrea Bertschi-Kaufmann, die beim Lesekongress „Lerche“ referieren wird (siehe Infokasten).
In dieser Geschichte erfahren Sie
- Wie früh die Förderung beginnt
- Warum Lesepaten helfen können
- Ob die Volksschule dem Problem gewachsen ist
Digital
Der Lesekongress „Lerche“ findet am 5. und 6. 11. digital statt. Er richtet sich an alle, denen Lesen und Lesenlernen ein Anliegen ist, also an Schul-
leitungen, Lehrkräfte, Eltern etc. In Fachvorträgen und Workshops werden Strategien zur Leseförderung präsentiert und diskutiert. Anmeldung für die kostenlose Teilnahme hier.
Andrea Bertschi-Kaufmann
Sie hat an der Pädagogischen Hochschule in der Nordwestschweiz und an der Universität Basel geforscht und wird eine der Referentinnen sein
KURIER: Welche Kinder haben die größten Probleme?
Andrea Bertschi-Kaufmann: Soziale Herkunft und Schulerfolg hängen in unseren Ländern eng zusammen. Die Voraussetzungen, die man zum Lesen braucht, werden in der frühen Kindheit gelegt – wenn Kinder lernen, Dinge zu benennen, oder wenn ihnen Geschichten erzählt werden. Wenn dieses Fundament einer sprachlichen Bildung fehlt, wird es für die Schule schwierig, das auszugleichen.
Wie könnte man dem Problem begegnen?
Zwei Ansätze wären wichtig: Eine frühe Sprachförderung und ein schulischer Rahmen, in welchem die Kinder individuell unterstützt werden. Wenn Kinder schon mit zwei, drei Jahren in Bildungseinrichtungen kommen, die gut fördern, ist das erwiesenermaßen eine große Chance. Und Ganztagsschulen sind möglicherweise auch ein günstiger Rahmen für die sprachliche Entwicklung der Kinder, dafür gibt es zumindest erste Hinweise aus der Forschung. Für beides braucht es aber eine politische Entscheidung.
Hier kommt der Volksschule eine wichtige Rolle zu.
Die Situation in der Volksschule ist sehr anspruchsvoll, weil die Schülerschaft sehr heterogen ist: Kompetenzprofile, kulturelle Milieus, Herkunftssprachen, Interessen und natürlich auch das Geschlecht sind verschieden. Damit müssen Lehrkräfte umgehen und in relativ kurzer Zeit die Kinder zu bestimmten Lernzielen führen, das gelingt nicht einfach so.
Sind die Lehrerinnen und Lehrer hierfür ausreichend geschult?
Wenn wir uns die komplexe Aufgabe vergegenwärtigen, müssen wir sagen: Lehrkräfte sind NIE genug ausgebildet. Sie brauchen viel Hintergrundwissen und eine gute Intuition im Umgang mit den Kindern. Natürlich entwickelt sich auch die Lehrerbildung entsprechend, allerdings hat Schule eine Vielfalt an Problemen zu meistern – nicht nur fachliche, sondern auch soziale. Deshalb will man in der Breite ausgebildete Lehrer. Breite ist nicht dasselbe wie Tiefe. Lehrpersonen können sich aber weiterbilden, sich mit anderen austauschen und ihre Expertise miteinander austauschen.
Wie muss ein Unterricht für Kinder, die sich beim Lesenlernen schwertun, aussehen?
Die Diagnose ist hier ein wichtiges Werkzeug – die Lehrkraft muss wissen, wo das Kind in seiner Entwicklung steht. Darauf sollte ein individualisierter und differenzierter Unterricht aufbauen. In der Praxis heißt das: Die Trainingsmöglichkeiten müssen so vielfältig sein, dass sich für jedes Kind das Passende auswählen lässt. Schwächere dürfen sich nicht überfordert, gute Schüler nicht gelangweilt fühlen.
Ein Grund, warum viele schlecht lesen können, ist der mangelnde Wortschatz. Wie kann dieser trainiert werden?
Indem man gezielt Möglichkeiten schafft, wo Kinder Dinge erfahren und benennen. Wortschatzförderung ist besonders dann anspruchsvoll für Schulen, wenn sie nicht schon im frühen Kindesalter eingesetzt hat. Wenn der Wortschatz in einer anderen Sprache vorhanden ist, ist das kein großes Problem. Wenn aber Begriffe und Vorstellungen grundsätzlich nicht da sind, wird es schwierig, auch deshalb, weil Sprache und Denken zusammenhängen.
Kinder mit Migrationshintergrund und Buben sind laut Statistik die Sorgenkinder.
Die Lehrer bauchen ein Verständnis für migrantische Kinder, die über große Brücken gehen – von der familiären Kultur hin zur schulischen. Was die Buben angeht: Man vermutet, dass ihnen fürs Bücherlesen männliche Vorbilder fehlen. Lesenlernen ist anfangs Schwerstarbeit und erfordert einen anspruchsvollen kleinschrittigen Prozess. Doch Buben sind häufig nicht so geduldig und diszipliniert. Das Erfolgsrezept für alle Kinder heißt: Individualisierte Programme, Regelmäßigkeit und ein konsequentes Lesetraining.
In vielen Schulen haben sich Lesepaten etabliert: Freiwillige, die in Schulen mit einzelnen Kindern lesen. Was meinen Sie, ist das ein kluges Konzept?
Auf jeden Fall. Da erfahren alle etwas, was Kinder in Bildungsfamilien ständig erfahren: Jemand setzt sich zu ihnen, liest mit ihnen, interessiert sich für das, was das Kind interessiert, und hilft über Klippen, wenn der Text schwierig wird.
Nach der Volksschule verfestigt sich die schlechte Leseleistung. Was bedeutet das für die betroffenen Schüler?
Leider gibt es eine große Gruppe von Kindern, die dem schulischen Stoff nicht folgen können, weil sie die Texte nicht verstehen – in allen Fächern. Ein Riesenproblem. Eine der Ursachen ist das, was wir ein schlechtes Lesekonzept nennen. Ich denke von mir: „Texte bewältige ich nicht, lange erst recht nicht.“ Die Folge: Ich bin weniger motiviert, will nicht lesen, tue es nicht und kann es auch nicht.
Wo muss hier die Leseförderung ansetzen?
Ein verlässlicher Leseunterricht steht auf drei Säulen. Die erste ist ein gut zusammengestelltes Training, bei dem es aufeinander aufbauende Abläufe gibt, ähnlich wie wir es etwa im Sport kennen – Kontinuität und eine sukzessive Steigerung führen zum Erfolg. Wobei möglichst jedes Kind sein individuelles Trainingsprogramm erhält.
Was sind die anderen Pfeiler der Leseförderung?
Kinder müssen in ihrer Lesemotivation gestärkt werden und eine Gewohnheit im Umgang mit Texten aufbauen können. Hier geht es darum, die richtigen Texte für die Kinder zu finden, das Lesen attraktiv zu gestalten und den Kindern Zeit zum Lesen, auch zum Miteinanderlesen zu geben. Zum Lesen gehört nicht nur das Verstehen von Alltags- und Gebrauchstexten, Lesen eröffnet auch den Zugang zur Literatur. Anspruchsvoll ist dies noch einmal auf eine andere Weise, weil literarische Texte weiter weg von der Alltagssprache sind, kunstvoll und auch schön.
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