Berührungsmediziner: "Die Gesellschaft entkörperlicht sich"

Zwei Hände berühren sich fast.
Berührungen gelten in einer immer digitaleren Welt inzwischen nahezu als verpönt. Dabei steckt im Hautkontakt viel Potenzial – auch zur Linderung von Erkrankungen. Experte Bruno Müller-Oerlinghausen erklärt im Interview, warum es sich lohnt, der Berührungsmedizin mehr Gewicht zu geben.

Eine Umarmung, ein Zwicken, ein Streicheln, ein Kitzeln: Berührungen können viele Formen annehmen. "Sie sind ein menschliches Grundbedürfnis, Urform menschlicher Kommunikation", präzisiert Bruno Müller-Oerlinghausen

Der deutsche Pharmakologe beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Wirkung des Hautkontakts. Neuere gesellschaftliche Strömungen führen zu einer fortschreitenden Stigmatisierung von Berührung, kritisiert er: "Die Gesellschaft entkörperlicht sich. Das Leben wird abstrakter, in einer zunehmend digitalisierten Welt. Der Handschlag zum Beispiel – der uns in der Pandemie genommen wurde –, ist so wichtig im Miteinander. Glücklicherweise ist er wiedergekehrt." Geblieben sei ein stärkeres Bewusstsein dafür, "wie wichtig Berührung ist".

KURIER: Was entscheidet darüber, was wir bei einer Berührung empfinden?

Bruno Müller-Oerlinghausen: Das hängt von den Umständen ab. Eine Berührung vermittelt nicht eindeutig ein bestimmtes Gefühl. Wenn der Priester den Segen spricht und einen berührt, löst das ein anderes Empfinden aus, als wenn man sich in einer Bar näherkommt und vom Gegenüber am Handrücken gestreichelt wird. Physikalisch und neurobiologisch passiert vermutlich Ähnliches, der Effekt hängt vom Kontext ab. 

Angenehm ist eine Berührung also, wenn ich berührt werden möchte?

Genau. Die Kraft der Berührung kann auch eine negative sein – wenn ein Übergriff passiert oder körperliche Gewalt ausgeübt wird. Wenn Menschen gar geschlagen oder gefoltert wurden, kann später im Leben die sanfteste Berührung in Alarmbereitschaft versetzen. Das, was über die Haut erlebt wird, wird als gute oder schlechte Erfahrung abgespeichert. 

Braucht der Mensch in jedem Lebensalter diese Form des Kontakts? Ich denke an Neugeborene, die ohne Hautkontakt nicht überlebensfähig sind …

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