Warum wir ohne Berührung nicht leben können
Ein Begrüßungsbussi hier, eine freundschaftliche Umarmung da: Kleine Gesten der Zuneigung, die bis vor Kurzem im Alltag noch selbstverständlich waren, beschränken sich seit Corona zumeist auf enge Familienangehörige und den eignen Partner. Zu allen anderen Menschen gilt es, den Abstand von einem Babyelefanten einzuhalten. Doch welche Auswirkungen hat es auf uns und unsere Psyche, wenn wir einander weniger oder gar nicht berühren?
Bei Berührungen schüttet das Gehirn Oxytocin aus: Das Bindungshormon reguliert den Stresspegel, aktiviert das Belohnungssystem und führt insgesamt zu einem vertrauteren Umgang mit Menschen. Fehlen diese Berührungen über einen längeren Zeitraum, entwickeln wir einen sogenannten „Skin Hunger“, übersetzt heißt das Hauthunger. „Wenn wir nicht berührt werden, wird auch kein Oxytocin produziert und das Gefühl der Verbundenheit und Nähe fällt weg. Die Sehnsucht danach ist zwar nach wie vor da, das Gefühl selbst aber nicht“, erklärt die Wiener Psychologin und Persönlichkeitstrainerin Natalia Ölsböck. Ein Zustand, den auch die Wienerin Anna* (Name von der Redaktion geändert) seit dem Corona-bedingten Appell zum Social Distancing kennt. „Ich bin Single und habe seit dem Lockdown Mitte März niemanden wirklich berührt. Das ist schon ein sehr komisches Gefühl“, erzählt die junge Frau. „Ich komme eigentlich sehr gut mit mir selbst aus und kann auch das Alleinsein genießen, aber im Moment fehlen mir Berührungen und Intimität sehr.“
Neben Singles sei die Situation insbesondere auch belastend für ältere Menschen oder Leute, die ins Krankenhaus müssen und nicht besucht werden können, sagt Ölsböck.
Wir Menschen können ohne Berührungen gar nicht leben. Sie sind für uns überlebenswichtig, auch wenn das vielen nicht bewusst ist.
Dass die Wohn- und Lebenssituation Einfluss hat, wie zufrieden Menschen in der Corona-Krise sind, zeigt auch eine Studie der Hochschule Osnabrück. Diese kam zu dem Ergebnis, dass es Personen, die in einer festen Partnerschaft leben oder mit Kindern, in den zurückliegenden Wochen mit den strikten Einschränkungen besser ging.
Dennoch sei das Bedürfnis nach körperlicher Nähe von Mensch zu Mensch unterschiedlich, weiß Verhaltensforscher Marc Mehu, der an der Webster University in Wien unterrichtet: „Extravertierte Menschen sind es zum Beispiel gewohnt, in ihrem Alltag viel Körperkontakt zu haben, während andere eher dazu neigen, diesen eher zu meiden.“ Er folgert daraus, dass Extravertierte solche Kontakte stärker vermissen als Menschen, die auch unter normalen Umständen weniger davon haben. Abhängig davon, ob jemand alleine lebt oder zusammen mit anderen Menschen oder einem Haustier könne der Berührungsmangel auch ausgeglichen werden.
Entzugserscheinungen
Bei Menschen, deren Bedürfnis nach Berührung nicht erfüllt wird, seien laut Mehu Entzugssymptome zu beobachten, die Drogenabhängige erleben, wenn ihnen ein Medikament entzogen wird. Der Fall sei das vor allem bei Personen, die viel Körperkontakt brauchen, wenngleich die Reaktion weniger intensiv ist wie bei einem Medikamentenzug. Durch die geringe Intensität würden Menschen mitunter leiden, ohne zu bemerken, was ihnen fehlt, bis sie wieder soziale Kontakte erfahren können.
Dauerhaft könne auf diese aber ohnehin niemand verzichten: „Wir Menschen können ohne Berührungen nicht leben. Sie sind für uns überlebenswichtig, auch wenn das vielen nicht bewusst ist“, sagt Ölsböck. So weiß man heute, dass Körperkontakt essenziell für die emotionale Entwicklung sowie die physische und psychische Gesundheit von Heranwachsenden und Kindern ist. Dieses Bedürfnis konnte in den 1950er-Jahren von dem US-Verhaltensforscher Harry Harlow in Tierversuchen nachgewiesen werden. Harlow isolierte Affenbabys von ihren Müttern und zeigte ihnen zwei Attrappen als Ersatz: eine aus Draht und eine aus weichem Stoff. Die Äffchen bevorzugten die Stoffmutter, obwohl es jene aus Draht war, die die Nahrung bereithielt. Die Conclusio: Die Affenbabys würden eher hungern, als auf körperliche Nähe zum Muttertier zu verzichten. Doch Berührungen sind nicht nur für Kleinkinder wichtig, „sondern für jeden Menschen bis zum Lebensende“, sagt Ölsböck. Der Mangel an menschlichen Berührungen könne letztlich bis hin zu Depressionen führen.
Beziehungen, die am Beginn der Krise gerade am Entstehen waren, ob romantisch oder freundschaftlich, haben wohl am meisten gelitten.
Genau wie Ölsböck geht auch Mehu davon aus, dass nicht alle Menschen gleichermaßen von den neuen Verhaltensregeln betroffen sind. „Beziehungen, die zu Beginn der Krise gerade am Entstehen waren, ob romantisch oder freundschaftlich, haben wahrscheinlich am meisten gelitten“, sagt Mehu. Die mittel- bis langfristigen Auswirkungen diesbezüglich müssten aber erst untersucht werden.
Achtsamkeit
Besser als gar keine Berührung sei laut Ölsböck, „sich selbst bewusst zu berühren. Zum Beispiel, indem man sich achtsam mit einer Bodylotion einschmiert.“ Anna hat indessen etwas anderes ausprobiert. Nach den ersten Lockerungen hat sie ihren Nachbarn – ebenfalls Single – getroffen „und wir haben uns einfach nur umarmt, gestreichelt und berührt. Im echten Leben würde ich so etwas nie machen, aber es hat uns beiden richtig gutgetan.“
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