Gletscherforscher: "Haben 14 Mal den Bodensee verloren"
Aufgewachsen in einem kleinen Südtiroler Dorf, haben Philipp Rastner die Berge schon immer fasziniert. Der Fokus des an der Universität Zürich tätigen Forschers hat sich aber verändert. Neben den alpinen Gletschern hat sich Rastner auf die Kartierung der weniger erforschten Gletscher weltweit spezialisiert. Die futurezone hat Rastner am Rande einer Konferenz des europäischen Satelliten-Netzwerks Copernicus interviewt.
futurezone: In den Alpen werden Gletscher seit fast 200 Jahren wissenschaftlich erforscht. Wie sieht der Forschungsalltag heute aus?
Philipp Rastner: Der Großteil der Arbeit der Arbeit findet am Computer statt. Neben Satelliten liefern Drohnen und Wetterstationen aufschlussreiche Daten, die über die Cloud auch sofort verfügbar sind. Die Arbeit im Gelände ist vergleichbar klein, aber nicht weniger wichtiger. Lokal werden Eisschmelze mittels eingebohrter Stangen oder Schneeüberschüsse durch das Graben von Schächten gemessen. Diese werden dann mit den Satellitendaten verglichen und überprüft.
Inwiefern haben hochauflösende Satellitendaten die Gletscherforschung verändert?
Viele Gletschergebiete sind unzugänglich und können nur aus der Luft vermessen werden. Bis vor wenigen Jahren wusste man daher nicht einmal, wie viele Gletscher es weltweit gibt. Erst seit 2014 existiert mit dem Randolph Glacier Inventory ein globales Gletscherinventar, das auf Basis von Satellitenbildern erstellt werden konnte. Die Auswertung existierender Satellitendaten ermöglicht zudem, die Entwicklung von Gletschern über längere Zeitreihen genau zu verfolgen.
Wie findet man sich in dieser Datenflut zurecht?
Die Datenmenge ist in der Tat überwältigend und die Auswertung erfordert spezielles Know-how. Neue Analysemethoden müssen oft für das jeweilige Forschungsprojekt entwickelt werden. Das ist kosten- und zeitintensiv, wofür im akademischen Betrieb meist die langfristige Finanzierung fehlt. Motivierte Wissenschaftler sind dann oft gezwungen, eine andere Stelle zu suchen und zurück bleibt vielerorts ein Datenfriedhof, was angesichts der Qualität der ungenutzten Daten doppelt schade ist.
Der Klimawandel setzt den Gletschern weltweit zu. Wie ist die Situation in Europa?
Der Trend ist eindeutig. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schmelzen die Gletscher mit einer kurzen Pause Ende der 70er-Jahre zurück. Seit 1997 beträgt der kumulierte Eisdickenverlust in den Alpen rund 20 Meter und für Nordeuropa sieben Meter. Vom Gletschervolumen her haben wir 14 Mal den Bodensee an Wasser verloren in dieser Zeit. Zum Anstieg des Meeresspiegels von drei Millimetern pro Jahr tragen die europäischen Gletscher mit geschätzten 0,1 Millimeter aber dennoch wenig bei.
Entgegen unserer lokal gefärbten Wahrnehmung sind unsere Gletscher also klein und unbedeutend?
Global gesehen und mit Bezug auf den Anstieg des Meeresspiegels: ja. Die wirklich großen Eismassen sind in Patagonien, im Himalaya, in Alaska, in der Kanadischen Arktis, in Grönland und in der Antarktis zu finden. Wenn diese auf den Klimawandel reagieren, sind die Auswirkungen entsprechend groß. Viele Länder rund um den Himalaya beziehen große Wassermengen aus den Bergen. Wenn sie fehlen oder geringer ausfallen, kann das zu einem großen Problem werden.
Welche anderen Probleme sind zu erwarten?
Im südlichen Himalaya kann es durch den verstärkten Abfluss im Sommer in Kombination mit dem Monsun zu Überschwemmungen kommen. In Übertiefungen von ehemaligen Gletscherbetten bilden sich oft neue Gletscherseen. Wenn Gletscherabbrüche oder umliegende Hänge in den See abrutschen drohen Tsunami-Wellen, die ganze Ortschaften und Täler darunter fluten können. Global gesehen ist die größte Herausforderung aber der Anstieg des Meeresspiegels. Weil irgendwo müssen die Wassermassen ja hin.
Inwiefern sind wir in den Alpen betroffen?
Natürlich wird es auch bei uns Auswirkungen geben. Als reiches Land können wir mit diesen aber besser umgehen, weil die Datengrundlage besser, das Gebiet überschaubar und viele historische Daten verfügbar sind. Wir wissen daher relativ genau, welche Ortschaften oder Häuser theoretisch von Gletscherabbrüchen betroffen sein könnten. Darüber hinaus vrfügen wir über die finanziellen Mitteln, Gegenmaßnahmen zu treffen.
Was bedeutet es für unsere Wasser- und Energieversorgung?
Die alpinen Energie-Betreiber müssen das Wassermanagement in Stauseen anpassen. Wenn im Sommer kein Wasser vom Gletscher nachkommt, muss man die Schneeschmelze im Frühling besser speichern.
Sind die Gletscher angesichts der Klimaerwärmung überhaupt zu retten?
Lokal und kurzfristig kann man etwa durch das Anbringen von Planen im Sommer die Auswirkungen abmildern. Damit kann man schon einige Meter pro Sommer retten. Das ist aber natürlich auf kleine Gebiete begrenzt. Global kann man nur hoffen, dass die von uns verursachte Erwärmung gestoppt wird und sich der Trend langfristig irgendwann wieder umkehrt oder stabilisiert. Aber selbst, wenn der Klimawandel morgen gestoppt würde, werden die Gletscher noch Jahrzehnte weiterschmelzen.
Weil die Reaktionszeit so lange ist?
Die Gletscher befinden sich in einem totalen Ungleichgewicht mit dem jetzigen Klima. Verglichen mit den Temperaturen der vergangenen Dekaden sind sie viel zu groß. Je größer der Gletscher, desto träger reagiert er. Der Grosse Aletschgletscher, der noch über 20 Kilometer lang ist, hat etwa 80 Jahre Reaktionszeit. Die dramatischsten Auswirkungen der Klimaerwärmung werden wir dort also erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erleben.
Das ist ein düsterer Ausblick. Gibt es keinen Hoffnungsschimmer?
Die Natur tut manchmal nicht so, wie wir zu verstehen glauben. Im Karakorum, das sich über Indien, Pakistan und China erstreckt, gibt es einige Gletscher, die aktuell wachsen und innerhalb weniger Jahre mehrere Kilometer nach vorne stoßen. Es gibt Theorien, warum das so ist. Topografie, Niederschlagsregime, Fließverhalten und Untergrund spielen eine wichtige Rolle. Ganz erklären kann man es aber bis heute nicht, warum der Gletscher in dem einen Tal zulegt, während im Tal daneben die Tendenz in die andere Richtung geht.
Ist die fehlende Unmittelbarkeit das Problem, warum der Klimawandel für viele so schwer zu begreifen ist?
Es liegt offenbar in der Natur der Menschheit, erst zu reagieren, wenn es fünf vor zwölf ist. Dass die Gletscher schmelzen, nimmt man zur Kenntnis, aber es betrifft einen ja nicht direkt. Die sind irgendwo da oben und weit weg. Wenn allerdings im Sommer das Wasser knapp wird und rationiert werden muss, oder die toten Fische auf den Flüssen treiben, dann fängt man zum Überlegen an. Aber erst dann.
Inwiefern hat die Politik verstanden, dass es tatsächlich fünf vor zwölf ist?
Länder wie z.B. die USA gehen politisch derzeit genau in die falsche Richtung. In Europa haben Teile der Bevölkerung, aber auch die Politik zumindest verstanden, nachhaltige Mobilität, Bildung und Wissenschaft, moderne Umwelttechniken, aber auch das Geschäft mit erneuerbarer Energie großes wirtschaftliches Potenzial bergen. Und auch auf wissenschaftlicher Seite sind wir mit langfristigen Programmen wie Copernicus im Vergleich zum Rest der Welt sehr gut aufgestellt.
Zur Person: Philipp Rastner
Der gebürtige Südtiroler studierte Geografie an der Universität Innsbruck. In seiner Doktorarbeit an der Universität Zürich erstellte er das erste komplette digitale Gletscherinventar von Grönland, in welchem die lokalen Gletscher und Eiskappen erstmals genau kartiert wurden. Neben seiner Tätigkeit für das Gletscherforschungsprojekt 'Glaciers CCI' der ESA ist Rastner beim europäischen Erdbeobachtungsprogramm Copernicus in der Klimaforschung tätig.
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