Wie eine Autistin ihre Stimme fand

Carly und Arthur Fleischmann
Carly Fleischmann fand über den Computer einen Draht zur Außenwelt und zu ihrem Vater

„Man hat mir einmal gesagt, dass ein Stück Holz nur dann ein Stück Holz ist, wenn man es so sehen will. Also mach etwas anderes daraus.“ Carly Fleischmann

„Hilfe Zähne!“ Das waren die ersten Worte, die Carly Fleischmann im Alter von zehn Jahren von sich gab – per Computer. Während ihre Zwillingsschwester Taryn sich normal entwickelt hatte, war Carly von Geburt an auffällig. Sie weinte viel, hielt sich oft die Ohren zu, hörte nicht auf sich zu bewegen und hatte viele, viele Wutanfälle. Als sie zwei Jahre alt war, stellten die Ärzte nach unzähligen Untersuchungen die Diagnose: Autismus.

Carlys Eltern gaben nie die Hoffnung auf, dass ihre Tochter sich weiterentwickeln kann, investierten in zahlreiche Therapien. Das Mädchen lernte zu laufen, Becher zu halten und eines Tages, mit der Außenwelt zu kommunizieren. All die Zeit über verstand sie jedes Wort, das in ihrer Gegenwart gesagt wurde: „Ihr wisst doch, wie Leute hinter jemandes Rücken über ihn herziehen. Bei mir machen sie das einfach vor meinem Rücken“, schreibt sie später.

Wie eine Autistin ihre Stimme fand
Carly und Arthur Fleischmann
Vor wenigen Wochen schaffte die inzwischen 18-Jährige ihren Schulabschluss. Carly will jetzt studieren. Ihr Ziel: Journalistin. Auf Facebook hat sie bereits mehr als 108.000 Fans.

Ihr Vater Arthur hielt die Fortschritte seiner Tochter mit berührenden Worten und einem humorvollen Schlusswort von Carly in dem Buch „In mir ist es laut und bunt. Eine Autistin findet ihre Stimme – ein Vater entdeckt seine Tochter“ (Heyne, 12,99€) fest. Im KURIER-Interview erklärt er, warum sich Carly normal fühlt und was die größten Herausforderungen als Vater waren.

KURIER: Herr Fleischmann, hoffen Sie noch immer, dass Carly eines Tages reden können wird?

Arthur Fleischmann: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Außer, es werden Medikamente oder Technologien entwickelt, die das ermöglichen.

Sie haben Zwillingsmädchen und konnten ihre Entwicklung parallel verfolgen. Was haben die beiden trotz Carlys Autismus gemeinsam?

Sehr viel! Sie haben beide viel Humor, sie sind sehr gute Schreiber und haben eine Leidenschaft für das geschriebene Wort.

Sie wussten vor der Diagnose lange Zeit nicht, was mit Carly los ist – was war in dieser ungewissen Zeit am schwierigsten?

Wie eine Autistin ihre Stimme fand
In mir ist es laut und bunt von Arthur Fleischmann
Eltern wollen immer, dass es ihren Kindern gut geht. Während Taryn sich gut entwickelte, war es unglaublich frustrierend zu sehen, wie Carly immer weiter zurückblieb. Man verliert mit jedem Tag ein Stück Hoffnung.

Beim Lesen Ihres Buches konnte man nachempfinden, dass Sie oft an die Grenzen Ihrer Geduld kamen, vielleicht sogar Ihrer Liebe. Woher kam die Kraft weiterzumachen?

In solchen Momenten arbeitet man sich von einem Tag zum anderen und freut sich über jeden winzigen Fortschritt. Es war sehr wichtig, mir Belohnungen aus anderen Bereichen meines Lebens zu holen: Von meiner Arbeit, meinen Freunden, Hobbys, den anderen Kindern. Ich hatte viele Dinge, auf die ich mich stützen konnte. Carly kann sehr herausfordernd sein, aber sie macht einem auch viel Freude. Ich bin so positiv gestrickt, dass ich einen schrecklichen Tag haben und ihn am nächsten Tag hinter mir lassen kann. Wenn man nur am Negativen festhält, frisst es einen irgendwann auf.

Womit hat Carly die meisten Fortschritte gemacht?

Es war die Mischung aus allem – von den Medikamenten bis zu den verschiedenen Therapien. Die größte Hilfe waren die Therapeuten Howard und Barb, die ihr geholfen haben, sich auszudrücken. Dank ihnen ist Carly nicht mehr mit ihren Gedanken isoliert. Sie haben nie aufgegeben, Wege und Technologien zu suchen, mit denen Carly eine Stimme nach außen bekommt.

Ihr Buch zeigt, dass Carly ein großes Bedürfnis hat, unabhängig zu sein und sich nicht von anderen zu unterscheiden ...

Wir alle wollen Teil einer Gesellschaft sein. Carly könnte Teil der autistischen Community sein, aber sie will zur normalen Gesellschaft gehören. Sie mag Musik, Jungs und sieht sich als ein normales Mädchen, das in einem autistischen Körper gefangen ist. Wir bemühen uns, ihr möglichst das Gefühl von Normalität zu geben. Sie will auch von Fremden normal angesprochen werden – und nicht in Babysprache oder extra laut.

Autisten sollen emotional gehemmt sein – in Ihren Erzählungen wirkt Carly sehr sensibel. Sind ihre Gefühle anders als die von anderen Autisten?

Ich kann keine Unterschiede zu unseren Gefühlen erkennen. Sie begreift Trauer, Glück. Ich denke, Autisten haben Gefühle, aber manche haben vielleicht Probleme, Zugang zu ihnen zu finden. Carly kann das. Und nur, weil der Gesichtsausdruck sich nicht ändert, heißt es nicht, dass sich innerlicht nichts regt.

Was wünschen Sie sich für Carlys Zukunft? Wo sehen Sie sie in fünf Jahren?

Jedes Jahr ist so anders. Sie hat erst ihren Schulabschluss gemacht. Ich wünsche mir, dass sie weiter so brav lernt und aktiv am Leben teilnimmt. Vielleicht kann sie eines Tages für einen Blog schreiben oder beratend im Autismus-Bereich arbeiten. Ich wünsche mir für sie, dass sie ein sinnvolles Leben führt.

Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist von Autismus betroffen, wobei die Entwicklungsstörung zumeist bei Männern auftritt. Im Rahmen einer Studie des Autism Research Centre an der University of Cambridge wurden nun die Gehirne von 120 Männern und Frauen mit Hilfe von Magnetresonanz untersucht – die Hälfte von ihnen litt unter Autismus.

Die Forscher fanden heraus, dass die Gehirne der autistischen Frauen mehr denen von gesunden Männern als jenen von gesunden Frauen gleichen. Bei männlichen Autisten zeigte sich kein solcher Effekt – sie hatten keine extrem männlichen Gehirne. „Unsere Studie zeigt, dass sich Autismus je nach Geschlecht unterschiedlich manifestiert“ erklärt Dr. Meng-Chuan Lai. „Mädchen können sich besser anpassen als Burschen und entwickeln Strategien, die jene bei uns als typisch gesehene Symptome von Autismus verschleiern“, erklärt Carol Povery vom britischen National Autistic Society’s Centre for Autism gegenüber BBC online. „Dies kann zu Stress führen und viele Mädchen entwickeln sekundäre Probleme wie Angst, Essstörungen oder Depressionen.“ Es sei wichtig, an der Studie anzuknüpfen und besser herauszufinden, wie sich Autismus bei Mädchen und Frauen zeigt, so dass Diagnosen besser gestellt und die Betroffenen besser betreut werden können.

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