Wenn Trauer als psychische Krankheit definiert wird

Wenn Trauer als psychische Krankheit definiert wird
Im überarbeiteten US-Diagnosekatalog für Psychiatrie finden sich viele neue Krankheiten.

Den Verlust eines geliebten Menschen steckt man nicht so einfach weg: Das muss verarbeitet werden und kann je nach Persönlichkeit längere Zeit dauern. Laut der „American Psychiatric Association“ (APA) kann aber nun auch schon während der ersten zwei Trauermonate nach einem Todesfall eine Depression diagnostiziert werden.

Diese Möglichkeit findet sich im neuen Diagnosekatalog der APA, der vergangenes Wochenende vorgestellt wurde. Schon im Vorfeld sorgte die fünfte Auflage des Handbuchs „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5) für heftige Kritik. Die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie warnt vor einer „Pathologisierung natürlicher Leidenszustände (wie z. B. Trauer, Anm.) sowie von natürlichen Anpassungs- und Alterungsprozessen.“

Auswirkungen

In Europa orientieren sich Psychiater und Psychotherapeuten zwar vorwiegend am Diagnose-Handbuch der WHO, dem „International Classification of Diseases“ (ICD-10). Für die Forschung ist aber auch der DSM relevant. Prim. Georg Psota, Präsident der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: „Man kann aber nicht ausschließen, dass Neudefinitionen des US-Systems Auswirkungen auf Europa haben.“ Sein Kollege Univ.-Prof. Siegfried Kasper, Med-Uni Wien, vermutet, dass „ sicher etwas übernommen wird“. In den vergangenen Jahren hätten die Diagnosen „in rasantem Maß zugenommen. Das entspricht nicht unserer Realität in den Kliniken. Man kann nicht alles kategorisieren“.

Ähnlich argumentierte kürzlich der US-Psychiater und DSM-5-Kritiker Allen Frances im Magazin Focus. Er ist Autor des Vorgänger-Handbuchs DSM-4. „Es sind nicht die Menschen, die sich ändern. Es sind die Labels. Nicht die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt zu, sondern die Bezeichnungen für sie.“ Freilich haben auch andere Gründe Einfluss auf das Mehr an Diagnosen. Etwa, dass psychische Probleme entstigmatisiert wurden – und häufiger auftreten, weil die Menschen älter werden.

Im DSM-5 finden sich allerdings noch etliche andere Neudefinitionen. „Binge Eating“ (regelmäßige Essattacken ohne Erbrechen) etwa gilt nun ebenso als krankhaft wie ein starkes „Prämenstruelles Syndrom“ (Stimmungsschwankungen knapp vor der Monatsblutung), Spielsucht oder das „Messie-Syndrom“ (exzessives Horten von Dingen). Oder der „Frotteurismus“, das heimliche Sich-Reiben an anderen. Für Kasper ist Letzteres keine eigene Erkrankung, sondern „Teil einer Zwangsstörung“. Diagnosen seien nichts anderes als Handlungsanweisungen. „Und diese sind nur dann sinnvoll, wenn daraus auch konkrete Therapien ableitbar sind. „Aus einem Oberschenkelhalsbruch werden schließlich auch keine drei Krankheiten, wenn der Knochen in Hüft-, Knienähe oder in der Mitte gebrochen ist.“

Symptombeschreibung

Ein weiterer Kritikpunkt am Handbuch ist die Beschränkung auf die Symptom-Beschreibungen. Georg Psota: „Systematische Checklisten haben sich in der Akutbehandlung bewährt, etwa bei Schmerzen in der linken Brust und Verdacht auf Herzinfarkt. In der mentalen Gesundheit muss man ebenso Ursache und Entstehung eines Symptombildes miteinbeziehen.“

Für Psota spielen kulturelle Unterschiede zwischen Amerika und Europa eine Rolle, besonders in der Art, mit Krankheit umzugehen. „Das schlägt sich in Kategorisierungen nieder. Aber nicht jedes Einzelsyndrom ist aus einem Gesamtzusammenhang herauslösbar.“ Gerade bei mentalen Störungen müsse man detaillierter hinschauen.

Ganz schlechtreden wollen die Experten die Neu- Überarbeitung des US-Regelwerks allerdings nicht. Die Intention war schließlich, Probleme früher zu erkennen und eine Pathologisierung zu verhindern. Als Beispiel nennt Siegfried Kasper das erwähnte „Binge Eating“: „Dass es nun definiert ist, ist einer der wenigen Punkte, die ich begrüße. Denn dieses Syndrom gibt es tatsächlich.“

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