Was hinter dem Modewort "Waldbaden" steckt

Beim Waldbaden hängt man seinen fünf Sinnen nach, lässt los und findet so vielleicht den Weg, in sich selbst reinzuhören
Das bewusste Spazieren im Schatten der Bäume spendet Energie und erdet zugleich. Doch was sagt die Wissenschaft dazu?

Am Anfang war es eine Marketingidee. Im Japan der frühen 1980er suchte das Ministerium für Landwirtschaft, Forste und Fischerei nach einer pfiffigen Wortkreation, um wieder mehr Menschen in ihrer Freizeit in den Wald zu locken und den Aufenthalt als fixen Bestandteil ihres Lebensstils zu integrieren. In einer Kultur, die einst tief mit der Natur verwurzelt war, aber sich allmählich davon loslöste, hielt der Begriff „Shinrin Yoku“ Einzug. Zu Deutsch: Waldbaden.

Mit einem Sprung ins Wasser hat das wenig zu tun. Gemeint ist, in die Natur einzutauchen, den eigenen fünf Sinnen nachzuspüren, aber sich auch der eigenen Psyche zu öffnen. Inzwischen hat sich Waldbaden in Japan als ernst zu nehmendes Forschungsfeld und Teil der Gesundheitsvorsorge etabliert. Hierzulande wird diese Art der Freizeiterholung erst jetzt entdeckt.

Das Hamsterrad anhalten

Eines vorweg: Waldbaden ist nicht mit der Waldtherapie gleichzusetzen. Sie ähneln einander und gerade in Fernost verschwimmen die Grenzen, aber letztere wird in unseren Breiten von Ärzten angeboten. Der Fokus liegt bei Menschen mit Lungenkrankheiten, orthopädischen oder psychosomatischen Problemen. Das Bad in der Atmosphäre eines Waldes dagegen soll die Gesundheit fördern, idealerweise noch bevor es zu physischen oder psychischen Beschwerden kommt. Wie intensiv die Auseinandersetzung mit der Natur ist, ist jedem selbst überlassen. Vom bewussten Spaziergang bis hin zum Verweilen und intensiven Hineinhören – in den Wald und in sich selbst – ist alles möglich. Übungen aus Yoga oder Qi Gong können die Wirkung verstärken. Was immer man tut, man muss es mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit tun.

Was hinter dem Modewort "Waldbaden" steckt

„Wir alle sind heutzutage sehr verkopft“, bemerkt Werner Buchberger. „Viele Menschen stecken in ihrem Hamsterrad fest und fangen mit Waldbaden gar nichts an. Sie gehen maximal zum Laufen in die Natur.“ Und dort setzt sich der Leistungsgedanke, der den Alltag oft vorantreibt, fort: Natürlich sei der Wald ein guter Ort zur sportlichen Betätigung, so Buchberger: „Aber wenn ich ständig auf die Uhr schaue und nachdenke, wie schnell ich unterwegs bin und was ich noch schaffen will, bin ich weit weg vom Spüren, Fühlen, zur Ruhekommen – und von dem, was sich in der Kommunikation mit den Bäumen, dem Wald und einem selbst ergeben kann.“ Buchberger weiß, wovon er spricht. Als Förster im Innviertel begleitet ihn der Wald schon seit 38 Jahren. Zudem hat er Ausbildungen im energetischen Bereich absolviert und macht Workshops und Seminare, in denen die heilende Kraft der Natur, einfache Meditationen und Übungen im Fokus stehen: „In Japan sind Mensch und Natur viel mehr Teil eines Ganzen, in Österreich und in Europa wird das eher getrennt.“ Gerade wenn beim Waldbaden diese esoterische Ebene hinzukäme, hätten viele Probleme, Zugang zu dem Thema zu finden, so Buchberger. Wobei: Für Fans harter Fakten hat die Wissenschaft in jüngster Zeit eine Fülle an Ergebnissen zusammengetragen, die eine Verbindung zwischen Mensch und Natur offenlegen, die weit über die intuitive Wahrnehmung à la „Die Waldluft tut gut“ hinausgeht. Vorreiter ist hier wieder Japan.

Baum der Erkenntnis

„Erst die Daten der vergangenen zehn bis 15 Jahre erlauben es uns, wissenschaftliche Aussagen über die Wirkung des Shinrin Yoku zu treffen“, so Yoshifumi Miyazaki von der Universität Chiba in Japan, der sich selbst seit 1988 in Forschungsarbeiten dem Thema widmet. So habe erst der technische Fortschritt seit dem Jahr 2000 ermöglicht, die Tätigkeit des Gehirns und des vegetativen Nervensystems im Zusammenhang mit Stress genauer zu messen. Und mehrere Studien haben in dieser Zeit belegt, dass die im Speichel messbare Konzentration des Stresshormons Cortisol bereits bei einem 15-minütigen Waldspaziergang merklich abnimmt. Ebenso nachgewiesen ist: Blutdruck und Pulsfrequenz sinken. Yoshifumi Miyazaki selbst machte mithilfe seines Teams auch Alleingänge: 2007 bewiesen sie erstmals, dass sich die präfrontale Hirnaktivität während des Waldbadens – ob spazierend oder sitzend war egal – beruhigte. Das subjektive Gefühl, dass sich Körper und Geist in der Natur besonders gut entspannen, bekam damit auch objektiven Status.

Nicht weniger fleißig war auch Qing Li, ein Pionier der modernen Waldmedizin, an der Nippon Medical School in Tokio: Er entdeckte 2004, dass der Aufenthalt im Wald die Bildung der Killerzellen im Immunsystem unterstützt. Sie bekämpfen nicht nur Viren und Bakterien, sondern erkennen und zerstören Krebszellen (mehr dazu im am Ende des Artikels).

 

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Mehr Bäume im Betondschungel

In Zeiten, in denen rund die Hälfte der Menschen weltweit in Städten wohnt, sind die im Zusammenhang mit Waldbaden gewonnenen Erkenntnisse durchaus spannend. Wobei die Conclusio nicht nur sein kann, öfters einmal Wälder im Umland oder naturbelassene Parkanlagen aufzusuchen. Heute weiß man, dass der Gesundheitsstatus der Bewohner steigt, je mehr Bäume in den Stadtvierteln selbst vorhanden sind. So kam Umwelt- und Neuropsychologe Marc Berman, der eine in Toronto durchgeführte Studie auswertete, zum Ergebnis: Bewohner von besonders grünen Wohnblöcken, die mit zehn zusätzlichen Bäumen über dem Gesamtdurchschnitt der Stadt lagen, waren gesundheitlich um sieben Jahre „jünger“: Ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck und andere Zivilisationskrankheiten war im Vergleich zu anderen Stadtbewohnern geringer.

Zurückfinden

„Für mich sind wir nicht nur Teil eines ganzen Systems, die Natur hält uns einen Spiegel vor“, so Buchberger. „Von der Borkenkäferproblematik und dem Eschensterben in Österreich bis hin zu den großen Rodungen in Südamerika – in der Natur herrscht ein ähnliches Durcheinander wie bei den Menschen. Auf gut Deutsch gesagt: Es geht uns nicht besonders gut. “ Und bedenkt man, dass der Homo sapiens den Großteil seiner 300.000-jährigen Evolutionsgeschichte in der Natur verbracht hat, ist das vielleicht gar nicht so verwunderlich. Erst in den vergangenen 200 bis 300 Jahren – im Zuge der industriellen Revolution – haben sich die Menschen immer mehr von ihrer natürlichen Umwelt entfernt, schreibt etwa Yoshifumi Miyazaki in seinem soeben erschienenen Buch „Shinrin Yoku“ (Irisiana Verlag): „Gene können sich nicht im Laufe von nur ein paar Hundert Jahren komplett verändern, weshalb wir zwar in einer modernen Gesellschaft leben, unser Körper aber immer noch an eine natürliche Umgebung angepasst ist.“ Seine Folgerung: Wir befinden uns in einem permanenten Stresszustand – und das zieht stressbedingte Erkankungen nach.

Ob Leistungsdruck, negative Gedanken und Emotionen, Wut oder Streit – im Wald scheint das alles zumindest für eine Weile zu verschwinden. „Natürlich ist es auch eine Glaubensfrage“, so Buchberger. „Dass hier ein Ort ist, an dem ich Dinge loslassen kann.“ Ideal dafür seien gesunde, ältere Mischbestände, belastete Orte wie alte Kriegsschauplätze oder kranke Bäume sollten vermieden werden: „Spürt man da in sich hinein, merkt man, dass es einem nicht gut geht. Dann geht man einfach weiter.“ Denn nur hundert Meter entfernt könnte er schon sein: der private Kraftplatz, an dem man für eine Weile Wurzeln fassen kann.

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Die Wissenschaft hinter dem Blätterrauschen

Der positive Effekt des Waldbadens hat viel mit den sogenannten Terpenen zu tun. Sie dienen dem Wald als Kommunikationsmittel und werden als   gasförmige Substanzen  bzw. ätherische Öle von  Blättern, Nadeln und anderen Pflanzenteilen ab- gesondert. So kann ein von Schädlingen befallener  Baum  Signalstoffe  ausschicken, um   die Umgebung zu warnen. Pflanzen, die die Botschaft verstehen, können  daraufhin ihr eigenes    Immunsystem hochfahren. Einige dieser unzähligen Terpene stehen  aber auch mit dem Menschen in Verbindung.

Das Wissen, dass gewisse  Substanzen  z.B. in Form von Aromatherapien gut  eingesetzt werden können, ist nicht neu. Was aber lange  nicht bekannt war, ist,   dass unser Immunsystem     mit einer signifikanten Steigerung der Abwehrkräfte reagiert.  Das hat etwa  2004 das Team rund um Wissenschaftler  Qing Li, der in den vergangenen Jahren an der Nippon Medical School in Tokio eine Reihe von  Studien dazu durchgeführt hat,  festgestellt.  Um herauszufinden,  ob  die   hohen Mengen an Terpenen im Wald eine  gesundheits- fördernde Wirkung haben, wurden  Versuchspersonen in Hotels einquartiert. Was die Probanden nicht wussten:  Mithilfe eines  Zerstäubers  wurde in der Nacht bei der Hälfte der Teilnehmer  eine mit Terpenen angereicherte Luft in die Zimmer geleitet. Die betroffenen Personen bekamen davon nichts mit.   Jeweils am Abend davor und am Morgen danach wurde allen Probanden Blut abgenommen.  Und siehe da: Bei den Personen, die die nachts Baum-Terpene eingeatmet hatten, zeigte sich am nächsten Tag eine  deutliche Steigerung der Anzahl und Aktivität von natürlichen Killerzellen sowie ein erhöhter Gehalt von Anti-Krebs-Proteinen im Blut auf.  Erstaunlich war auch: Die Effekte ließen sich  nach Tagen noch  nachweisen.
 
Spaziergänger, die sich  die Wirkung der Terpene  zunutze machen wollen, können das freilich ganzjährig tun. Im Wald ist aber die Konzentration    im Sommer am höchsten. Ab April steigt sie an und erreicht ihren Höhepunkt im Juli und August. Je tiefer man  in den Wald geht  und dabei in    Bodennähe bleibt,  desto höher ist die  Dichte der Terpene. Am Waldrand und in den Wipfeln hingegen ist die Konzentration niedriger.  Besonders reichhaltig ist die Luft  bei  nasskaltem Wetter, nach Regen und bei Nebel.  Atemübungen aus dem Yoga oder dem Qi Gong können die  Aufnahme  unterstützen. Schöner Nebeneffekt:  die Entspannung und der Seelen- frieden, die beim Einatmen der Waldluft eintritt.

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