Warum wollen viele werdende Eltern lieber Mädchen?

Viele werdende Eltern wünschen sich heute eher eine Tochter als einen Sohn. Woran liegt das?
"Hauptsache gesund." Es ist eine Standardfloskel werdender Eltern – nicht selten nur so dahingesagt. Denn viele Eltern haben beim Geschlecht ihres noch ungeborenen Kindes sehr wohl eine Präferenz.
Historisch betrachtet wurde das männliche Geschlecht in den allermeisten Kulturen präferiert. Jüngst scheint sich die elterliche Vorliebe in Richtung Mädchen zu verlagern.
Lieber eine Tochter
In den USA waren Eltern, die nur Töchter hatten, früher laut Forschungen eher dazu geneigt, weitere Kinder zu bekommen – in der Hoffnung auf einen Sohn. Heute zeigen sie ein gegenteiliges Verhalten: Eine Studie der Cornell University ergab 2017, dass Eltern in den USA nun seltener weitere Kinder haben, wenn das erste ein Mädchen ist. Ähnliches zeigt sich in Skandinavien: Dort weisen Eltern mit zwei Söhnen deutlich höhere Geburtenraten auf als solche mit zwei Töchtern.
Seit einigen Jahren sind "Gender Reveal Parties" populär, bei denen das biologische Geschlecht eines ungeborenen Babys effektvoll enthüllt wird. Im Lichte veränderter Geschlechterpräferenzen treibt der Trend seltsame Blüten: Unter dem Schlagwort "gender disappointment" werden Videos enttäuschter Eltern millionenfach auf sozialen Medien geklickt. In den Kommentaren hinterlässt man künftigen Bubenmamas und -papas gar Beileidsbekundungen.
Recht deutlich wurde auch der US-amerikanische Literaturprofessor Andrew Reiner vor einigen Jahren in einem Essay über seine Vaterschaft in der New York Times: "Ich wurde mit einer meiner größten Ängste konfrontiert: einen Sohn zu haben."
Feministische Debatten schüren Sorgen bei Eltern
Auch Shila Behjat beobachtet immer öfter, dass die Reaktionen auf einen Buben verhalten ausfallen. "Über ein Mädchen freut man sich meistens sehr, bei einem Jungen ist die Reaktion eher so: naja", erzählt die deutsch-iranische Publizistin und Mutter zweier Söhne. In ihrem Buch "Söhne großziehen als Feministin" widmet sie sich dem Thema anhand ihrer eigenen Geschichte. Als die überzeugte Feministin erfährt, dass sie Mutter eines Sohnes wird, denkt sie: "Er darf kein Arschloch werden."
Die Sorge, sein Sohn könnte zu einem unterdrückenden Macho heranwachsen, trieb auch Reiner um. "Wir beschäftigen und heute ungern mit Männlichkeit", erklärt Behjat. "Und wenn, dann oft in negativen Kontexten, zum Beispiel, wenn problematische Figuren, toxische Männlichkeit oder häusliche Gewalt besprochen werden. Das sind keine Kontexte, in denen man als Elternteil über sein Kind nachdenken will. Und es trübt die Lust, einen Jungen großzuziehen, weil es komplizierter wirkt."
Gerade um Gleichstellung bemühte Mütter und Väter fühlen sich vor Herausforderungen gestellt. Während man sich bei Mädchen "auf das Unterstützen konzentrieren kann, auf die Vergrößerung ihres Wirkungsraumes, stellen sich viele Buben-Eltern die Frage, in welchen Bereichen man sie aktiv bestärken sollte". Selbstbestimmte Mädchen seien erstrebenswert. "Standhafte Buben können als Bedrohung wahrgenommen werden, immerhin kennt man viele Männer, die sich auf Kosten anderer nehmen, was sie wollen."
Im natürlichen Verlauf kommen auf etwa 105 männliche Geburten rund 100 weibliche – wohl eine evolutionäre Reaktion auf die höhere Sterblichkeit von Buben. Die Rate schwankt allerdings leicht, aus Gründen, die die Wissenschaft noch nicht vollständig versteht. So steigt etwa nach Kriegen die Zahl männlicher Geburten an, während der Klimawandel zu mehr weiblichen Geburten führen könnte.
Idee des "starken Erben" gerät ins Wanken
Insbesondere mit der breiten Verfügbarkeit der Ultraschalltechnik in den Achtzigerjahren wurden in Teilen der Welt weibliche Embryonen abgetrieben, in der Hoffnung, dass die darauffolgende Schwangerschaft einen Sohn bringen würde. In China und Indien gibt es in manchen Alterskohorten heute deswegen einen deutlichen Männerüberhang. Berechnungen des Economist zufolge erblickten seit 1980 50 Millionen weniger Mädchen das Licht der Welt, als es natürlicherweise erwartbar wäre. Prognosen der Wochenzeitung zufolge hat sich die Entwicklung allerdings deutlich eingebremst.
Die Idee eines "starken Erben", der als fähige Arbeitskraft den Erhalt der Familie sichert und im Alter für die Eltern sorgt, scheint ins Wanken geraten. Stattdessen würden Töchter heute als zuverlässiger angesehen, wenn es um die Pflege im Alter geht, so die Überlegung mancher Soziologinnen und Soziologen. Der Wunsch vieler Eltern nach einer emotional zugewandten Tochter wäre damit eher Ausdruck traditioneller Geschlechterstereotype.
Tendenzen auch bei Adoption und künstlicher Befruchtung erkennbar
Auch bei Adoptionen tritt in den USA eine Präferenz für Mädchen zutage: Laut einer Studie aus dem Jahr 2010 waren Eltern in den USA bereit, bis zu 16.000 US-Dollar zu zahlen, um eine Tochter adoptieren zu können. Im Jahr 2009 befragten Forschende der Clark University über 200 Adoptivpaare, ob sie lieber einen Buben oder ein Mädchen hätten. Obwohl viele angaben, es sei ihnen egal, zeigten heterosexuelle Männer und Frauen sowie lesbische Paare im Schnitt eine Tendenz zu Mädchen. Heterosexuelle Männer beispielsweise empfanden Mädchen als "leichter zu erziehen", "interessanter" und "komplexer" sowie "weniger körperlich herausfordernd". Lesbische Frauen machten sich Sorgen, ob sie Buben gut sozialisieren könnten.
In Österreich ist das Geschlecht bei Adoptionen kein Thema, heißt es auf KURIER-Anfrage. "Aus Sicht der Wiener Kinder- und Jugendhilfe lässt sich derzeit keine signifikante Tendenz erkennen, dass verstärkt Mädchen nachgefragt oder bevorzugt werden." Bei Interessierten stehe der Wunsch nach einem Kind im Vordergrund. Im Adoptionsverfahren werde "sehr sorgfältig geprüft, welche Familie zu welchem Kind passt, nicht umgekehrt".
Die moderne Reproduktionsmedizin kann den Weg zum Wunschbaby weisen – in manchen Ländern auch den zum gewünschten Geschlecht. In den USA, wo die Selektion von Embryonen erlaubt ist, geben Eltern laut Economist-Recherchen viel Geld aus, um sich den Traum von einer Tochter zu erfüllen. Im Zuge der Präimplantationsdiagnostik kann auch in Österreich das genetische Geschlecht des Embryos bestimmt werden. "Hierzulande ist der selektive Transfer von weiblichen Embryonen aber ausschließlich bei bestimmten bestimmten x-chromosomalen Erkrankungen, die über das Geschlecht vererbt werden können, erlaubt", erklärt Andreas Obruca, Präsident der Österreichischen IVF-Gesellschaft. Anfragen zu einen Wunschgeschlecht kämen ohnehin nur äußerst selten vor.
Entdecken, "was Männlichkeit alles sein kann"
Es brauche jedenfalls neue Narrative von starken Buben, sagt Behjat: "Von solchen, die sich ihren Emotionen verbunden fühlen, fürsorglich sein dürfen, zu sich stehen, aber auch Zweifel zulassen und nach ihren Überzeugungen handeln, wenn sie auf eine Außenwelt treffen, die diese oft noch nicht so zulässt." Das sei nicht nur ein gesellschaftlicher Gewinn: "Der Gedanke darf nicht sein, dass man die Söhne mit Gleichberechtigung quält, sondern, dass das Patriarchat auch ihnen schadet."
Welchen Umgang legt Behjat Mütter und Vätern, die Eltern eines Sohnes werden, ans Herz? "Die Erziehung eines Sohnes ist eine Aufgabe, an der man auch selbst wachsen darf." Sie rät, Unsicherheiten Raum zu geben – "und sich mit den Söhnen gemeinsam auf Entdeckungsreise zu machen, was Männlichkeit alles sein kann".
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