Wenn Kinder im Alltag von Erwachsenen diskriminiert werden

Auch das Erniedrigen eines Kindes ist eine Form von Gewalt – und als Adultismus einzuordnen, meinen Fachleute.
An den Moment, als ihr Kind zum ersten Mal diskriminiert wurde, erinnert sich Evelyn Höllrigl Tschaikner noch genau. "Meine Tochter war wenige Wochen alt und ich mit ihr alleine im Zug zu meiner Familie unterwegs", erzählt die gebürtige Südtirolerin. Wegen der langen und mit einem Säugling beschwerlichen Zugfahrt buchte sie einen Platz in der ersten Klasse. "Als ich mit meinem Kind das Abteil betrat, hörte ich einen Mann sagen 'Babys in der ersten Klasse, na was denn noch?'."
Damals, so beschreibt es Höllrigl Tschaikner heute, "kannte ich noch kein Wort für das, was mir passiert war". Inzwischen ist ihr klar: "Das war Adultismus."
Unter Adultismus versteht man "kurz gesagt eine Diskriminierung von Kindern aufgrund ihres Kindseins", erklärt Helmut Sax vom Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte in Wien. Wie etwa auch bei Sexismus oder Rassismus komme eine Machtstellung zulasten einer bestimmten Gruppe zum Tragen – "in dem Fall die Machtstellung der Erwachsenen", sagt Sax, auch Mitglied des Leitungsteams des Netzwerks Kinderrechte Österreich. Letztlich sei Adultismus eine "Form der Altersdiskriminierung". Zwar würden die meisten in diesem Zusammenhang an ältere Menschen denken, "aber Altersdiskriminierung geht in beide Richtungen". Im Kern stehe oft die Zuschreibung an Kinder, sie seien nicht kompetent genug, "weswegen sie oft übergangen werden". Höllrigl Tschaikner: "Es gibt Menschen, die sagen ‚Ich hasse Kinder, weil sie Kinder sind‘ – was ich sehr problematisch finde."
Von der Supermarktkassa bis zur Wohnungssuche: Adultismus im Alltag
Sich an der Supermarktkassa an Kindern vorbeidrängeln, entnervte Reaktionen auf weinende Babys im Flugzeug, eine Wohnungssuche, die am Kind scheitert: Adultismus hat im Alltag viele Gesichter. Und ist kein Randphänomen, weiß Höllrigl Tschaikner, die als Autorin und freie Journalistin auf sozialen Medien Aufklärungsarbeit zum Thema Elternschaft betreibt. "Als meine Tochter acht Jahre alt war, habe ich sie zum Bäcker bei uns ums Eck geschickt, um einen Laib Brot zu holen. Als sie nach 15 Minuten immer noch nicht zurück war, bin ich ihr nachgegangen und habe sie verängstigt in einer Ecke gefunden. Man hatte ihre Bestellung nicht verstanden und sie ignoriert, statt ihr zu helfen." Als sie diese Erfahrung auf Instagram teilt, ist die Resonanz enorm.
Eltern tragen als Erziehungsberechtigte Verantwortung für ihr Kind. "Das schafft auch ein Abhängigkeitsverhältnis", sagt Sax. Im Extremfall könne diese Stellung missbraucht werden, etwa, wenn Gewalt ausgeübt wird. Wobei Sax den Gewaltbegriff weiter fasst. So sei auch das Ignorieren, Abwerten, Anschreien oder Entwürdigen von Kindern eine Form von Gewalt.
"Wir haben die Aufgabe, Kinder fürsorglich anzuleiten"
Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin der Möwe-Kinderschutzzentren und Vorstandsmitglied der Kinderliga, bemerkt in der Frage der Haltung Kindern gegenüber einen Wandel in der Gesellschaft. "Wir haben die Aufgabe, Kinder fürsorglich anzuleiten, gleichzeitig sollte es unser Anspruch sein, mit ihnen auf Augenhöhe zu interagieren." Daraus ergebe sich die Diskussion, "wie viel Verantwortung Erwachsene übernehmen sollten und wo wir Kindern altersgerecht mehr zutrauen sollten, anstatt aus Bequemlichkeit bestimmend zu agieren – ein Balanceakt".
Eine Lösung sieht Sax in der Stärkung von Kinderrechten. "Kinder sind Träger von Menschenrechten – klingt trivial, es ist aber nicht selbstverständlich, dass das so gesehen wird". Kinder hätten ein Recht auf Teilhabe. "Das umfasst, dass ihre Meinung berücksichtigt werden sollte – was nicht heißt, dass sie immer recht haben, aber es muss reale Einflussmöglichkeiten geben."
Ein aktuelles Beispiel, bei dem es erneut nicht gelungen sei, Adultismus aufzubrechen, sei Sax zufolge das Handyverbot an Schulen. "Das wäre eine Gelegenheit gewesen, Kinder mit ihrer Meinung hörbar und sichtbar zu machen. Es wäre dringend angezeigt gewesen, das Gespräch mit Kindern zu suchen, die es auch als Problem sehen, dass sehr viel Zeit am Handy verbracht wird – vielleicht aber auch reflektierte Handlungsoptionen anzubieten hätten."
Am 22. Mai 2025 veranstaltet das Netzwerk Kinderrechte eine österreichweite Kinderrechte-Konferenz, mit Zivilgesellschaft und staatlichen Akteuren, inklusive Jugendbeteiligung. Ziel ist – bereichs-, disziplinen- und bundesländerübergreifend – über die Bedeutung von Rechten von Kindern und Jugendlichen in Österreich diskutieren.
Wann? 22. Mai 2025, 9:30 bis17:00 Uhr
Anmeldungen sind begrenzt, melden Sie sich bei Interesse unter: info@kinderhabenrechte.at
"Man hört nicht selten von Frauen, die keine Kinder möchten, dass sie sie nicht mögen"
Adultismus ist auch in feministischen Kreisen gegenwärtig: "Man hört nicht selten von Frauen, die keine Kinder möchten, dass sie sie nicht mögen. Kinder sind schutzbedürftig, insofern ist das ein antifeministischer Gedanke", betont Höllrigl Tschaikner. Die Wurzel dafür verortet sie in der Verwobenheit von Frausein und Mutterschaft: "Wenn man keine Kinder mag, hat man eine Berechtigung, keine bekommen zu wollen. Will man aus anderen Gründen keine, bekommt man in unserer Gesellschaft das Gefühl, keine vollständige Frau zu sein." Adultismus sei zudem immer auch Kritik an Müttern. "Frauen verrichten den Großteil der Betreuungsarbeit und werden für das vermeintliche Fehlverhalten des Kindes verantwortlich gemacht. Und wenn im öffentlichen Raum Kinder ausgeschlossen werden, müssen auch Mütter draußen bleiben."
Oft werde adultistisches Verhalten damit gerechtfertigt, dass Kinder sich schlecht benehmen. Höllrigl Tschaikner: "Es geht nicht um schlechte Erziehung, sondern darum, dass Kinder, die sich wie Kinder benehmen, schief angeschaut werden."
Im Alltag rät sie Eltern, in kritischen Situationen für das eigene Kind einzustehen: "Man kann andere höflich, aber bestimmt zurechtweisen und dem Kind zeigen, dass man auf seiner Seite steht."
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