Pflege als reine Familiensache

Pflege als reine Familiensache
Studie mit 3000 ambulanten Patienten zeigt: Fremde Hilfe wird nur selten angenommen

Von „beträchtlichen Herausforderungen“ für die Regierungen spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO: Bis 2050 wird sich weltweit alle 20 Jahre die Zahl der demenzkranken Menschen verdoppeln. „Auf diese Entwicklung wird die Gesellschaft reagieren müssen“, sagt der Demenz-Spezialist Univ.-Prof. Reinhold Schmidt, stellvertretender Vorstand der Klinik für Neurologie der MedUni Graz.

KURIER: Wie geht es Demenz-Patienten in Österreich?
Reinhold Schmidt: Bisher hatten wir dazu in Österreich keine verlässlichen Daten, sondern lediglich Schätzungen, die auf Erhebungen anderer Länder basierten. Die Österreichische Alzheimergesellschaft (ÖAG) hat deshalb aus eigener Initiative das Demenz-Datenbankprojekt Prodem-Austria („Prospektives Demenzregister“) gestartet. Für dieses werden die Daten von 3000 ambulanten Patienten ausgewertet. Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor: 75 Prozent werden zu Hause ausschließlich mit Hilfe aus der Familie betreut, zumeist sind das der Partner oder die Kinder. 68 Prozent der Pflegepersonen sind Frauen, nur in den höheren Altersklassen ist die Geschlechterverteilung ungefähr gleich. Fremde Hilfe wird nur sehr selten angenommen (siehe Grafik).

Der Hausarzt ist das einzige medizinische Angebot des Gesundheitssystems, das von einem Großteil der Patienten – 72 Prozent – vor dem ersten Ambulanz-Besuch genützt wurde, gefolgt von den Neurologen mit 25 Prozent. Und obwohl sie einen Anspruch hätten, erhalten fast zwei Drittel der Patienten vor dem ersten Ambulanz-Besuch kein Pflegegeld. Das alles zeigt die Notwendigkeit für einen sogenannten Case-Manager, der betroffene Familien begleitet, unterstützt und ihnen hilft, bürokratische Hürden zu bewältigen.

Wie lange dauert es, bis die Demenz-Patienten eine Spezialambulanz aufsuchen?
Nur ein Viertel kommt innerhalb eines Jahres nach Auftreten erster Symptome in eine Gedächtnis-Ambulanz, ein Drittel hingegen erst nach drei Jahren. Die Initiative dazu geht fast immer von der Familie aus, nur in rund zehn Prozent der Fälle von Ärzten. Gedächtnisverlust ist mit großem Abstand das Symptom, das am häufigsten den Anlass zum ersten Ambulanz-Besuch gibt, gefolgt von beeinträchtigten Alltagsfunktionen.

Wie steht es um die Entwicklung neuer Therapien?
Es gab einige Rückschläge bei Therapieansätzen, die auf die Entfernung von für die Nervenzellen schädlichen Eiweiß-Bruchstücken – Amyloid-beta – abgezielt haben. Das gelang zwar, führte aber zu keiner Besserung der Gehirnfunktion. Möglicherweise ist also dieses Eiweiß nur das Abbauprodukt eines Prozesses, den wir noch nicht kennen. Allerdings gab es in den Studien Signale, dass bei leichten Erkrankungen im Frühstadium dieser Weg doch etwas bringen könnte – vielleicht müssen wir also nur früher mit der Therapie ansetzen. Deshalb bestehen jetzt große Forschungsanstrengungen, Biomarker, nachweisbare biologische Merkmale, ausfindig zu machen – etwa in der Rückenmarksflüssigkeit oder in der Magnetresonanztomografie –, mit deren Hilfe bereits Vorstufen von Alzheimer-Erkrankungen erkannt werden können. Dadurch könnte auch eine frühere Therapie ermöglicht werden. Dazu muss es aber gelingen, genau jene Menschen zu identifizieren, die beim Auftreten solcher Marker später mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich erkranken werden. Denn 50 Prozent der 50-Jährigen haben bereits Alzheimer-typische Veränderungen in bestimmten Gehirnregionen, aber nicht alle von ihnen erkranken.

Welche Vorbeugemaßnahmen haben einen erwiesenen Nutzen?
Es geht darum, eine kognitive Reserve aufzubauen – also die Widerstandsfähigkeit des Hirns gegen künftige Schädigungen zu erhöhen. Sowohl Lernen als auch soziale Kontakte führen dazu, dass sich neue Nervenzellen im Gehirn entwickeln. Eine Untersuchung von Hirnen Verstorbener hat ergeben: Sind bereits alzheimertypische Veränderungen vorhanden, kommt es bei Menschen, die in soziale Netzwerke eingebunden sind, viel seltener zum Auftreten von Symptomen. Komplexe Tätigkeiten wie Tanzen oder das Erlernen einer Sprache sind besonders gute Schutzfaktoren.

Pflege als reine Familiensache
privat
Welche Risikofaktoren sind nachgewiesen?
Bluthochdruck, Diabetes und wahrscheinlich auch ein hoher Cholesterinspiegel. Auf psychischer Ebene sind es Einsamkeit, Depressionen und der als negativ und belastend empfundene Dystress.

Studien haben gezeigt, dass Inhaltsstoffe von Kaffee, Grünem Tee und Rotwein das Alzheimer-Risiko senken können.
Das sind teilweise sehr gute Einzelstudien. Aber noch ist es für endgültige Aussagen zu früh, dafür benötigen wir weitere Untersuchungen, die das bestätigen. Was erwiesen ist: Eine ausgewogene, mediterrane Ernährungsweise kombiniert mit ausreichend Bewegung senkt das Alzheimer-Risiko deutlich.

Pflege als reine Familiensache

Kommentare