Multiple Sklerose: "Den normalen Alltag erhalten"
Als „Krankheit der 1000 Gesichter“ wird sie oft bezeichnet, weil ihr Erscheinungsbild so unterschiedlich ist: Multiple Sklerose (MS). Dabei greift das Immunsystem die Isolierschicht der Nerven an. „In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Bild der MS sehr gewandelt. Der Anteil der günstigeren Krankheitsverläufe ist größer geworden“, sagt Univ.-Prof. Siegrid Fuchs, MS-Spezialistin an der Klinik für Neurologie der MedUni Graz.
KURIER: Was hat sich geändert?
Wie häufig ist das?
Mittlerweile haben bereits an die 50 bis 60 Prozent der Patienten einen guten und stabilen Krankheitsverlauf. Das Bild von früher, wo MS mit schwerer Behinderung und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt wurde, stimmt heute nicht mehr. Ziel unserer Bemühungen ist es, die Lebensqualität und den normalen Alltag zu erhalten, dass die Menschen ihr privates und berufliches Leben so führen können, wie wenn sie die Krankheit nicht hätten. Das gelingt immer besser.
Wodurch wird MS ausgelöst?
Das weiß man bis heute nicht. MS ist keine Erbkrankheit, aber es gibt genetische Faktoren, die das Erkrankungsrisiko erhöhen. Hinzu kommen Umweltfaktoren. Einige Studien lassen einen Zusammenhang mit bestimmten Infektionen im Jugendalter – Herpesviren im Allgemeinen und davon das Epstein-Barr-Virus im Besonderen – als sehr wahrscheinlich erscheinen. Besonders dann, wenn es durch eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus zum Auftreten des Pfeifferschen Drüsenfiebers gekommen ist. Da MS in nördlichen Ländern häufiger ist als in südlichen, wird auch ein Einfluss des Sonnenlichts und eines Vitamin-D-Mangels diskutiert. Verlässliche Belege gibt es aber nicht. Ähnliches gilt auch fürs Rauchen: Es wird vermutet, dass es den Krankheitsverlauf verschlechtern kann.
Nimmt die Häufigkeit zu?
Ja. Zum Teil hat das sicher mit der verbesserten Diagnostik zu tun. Ich habe aber den Eindruck, dass unabhängig von den besseren Diagnosemöglichkeiten seit einigen Jahren die Zahlen steigen. Über die Gründe können wir nur Mutmaßungen anstellen. Eine ist, dass durch gestiegene Hygienestandards das Immunsystem unterbeschäftigt ist und sich – mangels zu bekämpfender Bakterien und Viren – gegen körpereigene Strukturen wendet. Erwiesen ist das nicht.
Sind neue Therapien in Sicht?
Wir warten auf mehrere neue Wirkstoffe, für deren Zulassung sich der Arzneimittelausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur EMA bereits ausgesprochen hat. Ich hoffe, dass es bald tatsächlich zur Zulassung kommt. Zwei Substanzen (DMF – Dimethlfumarat und Teriflunomid) müssen – im Gegensatz zu den meisten anderen MS-Medikamenten – nicht injiziert werden. In den Zulassungsstudien konnte sie die Zahl der Schübe deutlich reduzieren. Auch eine Infusionsbehandlung mit einem hochwirksamen Antikörper (Alemtuzumab) hat eine positive Stellungnahme des EMA-Ausschusses erhalten.
Wie wirken diese Präparate?
Sie greifen direkt in den Prozess der Krankheitsentstehung ein: Sie hemmen Teile des Immunsystems und verhindern dessen überschießende Reaktion gegen eigenes Gewebe. Die Angriffe von Abwehrzellen gegen das körpereigene Myelin werden abgeschwächt bzw. gestoppt. Zwei solcher gezielt wirkenden Medikamente stehen uns bereits zur Verfügung.
Was werden diese neuen Medikamente in der Praxis ändern?
Auf alle bisherigen Präparate spricht jeweils nur ein Teil der Patienten in dem Maß an, wie wir es uns wünschen würden. Deshalb bedeutet jedes neue Präparat eine Hoffnung für jene Patienten, bei denen alles bisher Verfügbare nicht ausreichend wirkt.
Gibt es nicht auch zum Teil starke Nebenwirkungen?
Alles, was hoch wirksam ist, kann auch Nebenwirkungen haben: Bei einem der derzeit verwendeten Präparate (Natalizumab) kann es in seltenen Fällen zu einer schweren Gehirnentzündung kommen. Deshalb ist es wichtig, dass die Patienten in MS-Zentren intensiv betreut werden und der Therapieverlauf gut kontrolliert wird. Das Risiko kann deutlich reduziert werden, wenn schon bei der Auswahl der Patienten für bestimmte Therapien auf Faktoren, die die Gefahr von Nebenwirkungen erhöhen könnten, geachtet wird. Ich habe an unserer Ambulanz noch nie einen Patienten mit so einer Gehirnentzündung gesehen. Es gibt ein Risiko, aber der Nutzen der Therapien ist um vieles größer.
Gefühlsstörungen, Seh- oder Sprachstörungen, Unsicherheit beim Gehen: Das können erste Symptome einer MS sein. „In diesem Fall sollten Sie umgehend einen Neurologen aufsuchen, um die Ursache abzuklären“, betont die Neurologin Univ.-Prof. Siegrid Fuchs.
Die Diagnose beruht auf mehreren Faktoren: „Den Symptomen des Patienten, Aufnahmen des Gehirns in der Magnetresonanztomografie und einer Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor).“
„Die Behandlung selbst wird dann von einem der rund 50 österreichischen MS-Zentren in Kooperation mit niedergelassenen Neurologen sowie Medizinern anderer Fachrichtungen durchgeführt“, sagt Fuchs.
Wichtig seien aber auch ergänzende Behandlungen wie etwa Physiotherapie,um die Körperfunktionen durch gezieltes Training so lang wie möglich zu erhalten.
10 bis 15 Prozent der MS-Fälle werden vor dem 20. Lebensjahr diagnostiziert: „Ein frühes Auftreten ist kein Zeichen eines schlechteren Krankheitsverlaufes“, betont die Neurologin.
Die „Österreichische Gesellschaft für Neurologie“ (ÖGN) ist die Dachorganisation der Neurologen. Auf www.oegn.at gibt es Infos über neurologische Erkrankungen – von Demenz und Epilepsie über Migräne, Multiple Sklerose bis zu Parkinson und Schlaganfall. Gleichzeitig werden auch mögliche Ursachen verschiedener Symptome erklärt – etwa Bewegungsstörungen, Gangunsicherheit, Gefühls- störungen, Lähmung, Kopf- oder Muskelschmerz, Schwindel, Stürze.
WeltkongressDie österreichische Neurologie genießt international einen ausgezeichneten Ruf – ein Grund dafür, dass Wien im September die Gastgeber-Stadt des 21. World Congress of Neurology (WCN 2103) sein wird. Der Weltkongress der Neurologie ist die größte und wichtigste Veranstaltung dieses medizinischen Fachgebietes. 8000 bis 10.000 Teilnehmer werden erwartet.
Kommentare