Kinderarzt verschenkt Online-Märchen

Mother and son using tablet
Ab sofort bekommen Familien vom Kinderarzt Wertkarten für Online-Geschichten geschenkt.

Es war einmal ... Puschel, das Eichhörnchen. Es saß in den Zweigen eines knorrigen Kastanienbaumes und träumte dem Sommer hinterher. Schon vor Tagen hätte es anfangen müssen, Vorrat für den Winter zu sammeln ... Wenn Kinder Märchen hören dürfen, so ist dies Nahrung für ihre Fantasie. Nicht nur: Ihr Wortschatz wird erweitert und wenn sie Geschichten vorgelesen bekommen, verbringen sie wertvolle Zeit mit ihren Eltern.

Eine neue Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde will gemeinsam mit dem bekannten Märchenerzähler und Buchautor Folke Tegetthoff das Vorlesen fördern. Familien bekommen ab sofort bei jedem Besuch beim Kinderarzt eine "Geschichtenwertkarte", mit der sie pädagogisch geprüfte Erzählungen von der Webseite herunterladen können.

Eltern-Kind-Bindung

Kinderarzt verschenkt Online-Märchen
Geschichtenbox.com
Reinhold Kerbl, Präsident der Gesellschaft der Kinderärzte, ist von diesem Konzept überzeugt: "Mit dem Projekt wird nicht nur die Eltern-Kind-Bindung gefördert, sondern auch die sprachliche Kompetenz der Kinder." Die Geschichten sind nach Altersgruppen, nach Geschichtenarten (3600 Geschichten von Reimen über Märchen bis hin zu Sachtexten) und auch nach ihrer Dauer sortiert. "Die Eltern können sich aussuchen, ob sie eine Geschichte wählen, die zwei Minuten dauert, zehn oder länger."

Auch die Psychologin Verena Schlosser-Windauer begrüßt diese etwas ungewöhnliche Initiative. "An Schulen zeigt sich, dass die Lesekompetenz der Kinder sehr schlecht ist. Viele haben einen geringen aktiven Sprachschatz, das liegt an der mangelnden Interaktion und Übung. Grund dafür ist, dass manche Eltern die Geschichten nicht gut weitergeben können oder gar keine Zeit mehr dafür haben."

Der Buchautor und Erzähler Folke Tegetthoff verweist auf Studien, die belegen, dass Kinder 100 Minuten vor dem Fernseher sitzen, aber nur zwei Minuten pro Tag vorgelesen bekommen (siehe Interview unten). Vielen Eltern fehlt das Bewusstsein, dass Vorlesen nicht nur eine Unterhaltungsfunktion ist, sondern sich nachhaltig auf ihre Kinder auswirkt. "Es schult die Wahrnehmungskanäle. Zum einen, wenn ich mit dem Kind Wörter nachspreche, wiederhole oder mit dem Finger auf etwas zeige. Anderseits entwickeln sich so auch soziale Kompetenzen. Bei einer Geschichte, die viele Emotionen vermittelt – unangenehme und angenehme – muss ich darauf eingehen und diese mit dem Kind besprechen. Ich frage, wie es in dieser Situationen reagiert hätte. So lernen Kinder, wie sie mit Konflikten oder aber auch Freundschaften umgehen", sagt Schlosser-Windauer.

Dass Kinder auch oft aus einem iPad statt aus einem Buch vorgelesen bekommen, ist für den Kinderarzt Kerbl nicht problematisch. "Um moderne Medien kommen wir nicht mehr herum, die werden sowieso genutzt." Wichtig sei für ihn die Auseinandersetzung von Eltern mit Kindern. "Wir müssen aus dieser sozialen Sprachlosigkeit heraus, wo jeder alleine in das Gerät glotzt. Beim Vorlesen sind beide Seiten beteiligt und unterhalten sich über den Inhalt der Geschichte."

Tablet ergänzend

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Die Psychologin Verena Schlosser-Windauer empfiehlt das Tablet lediglich als Zusatz. "Wenn ich unterwegs bin und meinem Kind etwas vorlesen möchte, zum Beispiel im Bus, spricht überhaupt nichts dagegen, es einzusetzen. Obwohl es auch interaktive Geschichten gibt, würde ich es nicht nur als Ersatz für ein Buch nehmen, bei dem vor allem kleinere Kinder fühlen und greifen können."

Forscher von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel haben auch herausgefunden, dass LED-Bildschirme, mit denen Computer, Flachbildschirme und Tablets ausgestattet sind, einerseits die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit erhöhen, aber auch den Schlaf-Wach-Rhythmus irritieren. Eine Pause vom Tablet kann daher nicht schaden. Die Erzählungen aus der Geschichtenbox können auch ausgedruckt und erst dann vorgelesen werden.

KURIER: Lesen Eltern ihren Kindern heute zu wenig vor?
Viele Erziehungsberechtigte sehen Vorlesen als nette Unterhaltungsfunktion. Dahinter steckt aber die Interaktion zwischen Elternteil und Kind, eine perfekte Kombinationsbrücke in einer Zeit, in der das Fernsehen großen Einfluss hat. Manche versuchen, sich Zeit zu erkaufen, indem sie das Kind vor den Fernseher setzen. Studien zeigen, dass Kinder im Schnitt 100 Minuten fernsehen. Im Gegensatz dazu wird ihnen nur zwei Minuten pro Tag vorgelesen. Vorlesen ist aber mehr: Eltern schenken ihren Kindern dabei Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe.

Es heißt oft, Kinder können nicht mehr zuhören.
Das kann man so nicht sagen. Kinder sehen, dass Erwachsene einander kaum noch zuhören. Gut zu beobachten bei TV-Übertragungen aus dem Parlament. Einer redet am Pult und die anderen schwätzen oder drehen sich um. Auch Kinder, die täglich vorm Fernseher sitzen lernen, dass sie nicht zuhören müssen. Während das Programm läuft, tun sie etwas anderes.

Ab welchem Alter sollte man Lesekompetenz fördern?
Man sollte schon mit ein oder zwei Monate alten Kindern sprechen und ihnen etwas erklären. Es geht um Kontaktaufnahme durch Kommunikation. Es gibt kein Alter, in dem man das Vorlesen stoppen sollte. Auch Erwachsene sagen, sie mögen es, wenn ihnen der Partner vorliest.

Worauf kommt es beim Erzählen besonders an?
Wenn ich etwas vorlese, ist die Geschichte Nebensache. Wichtig ist, dass ich mir Zeit nehme, auch wenn es nur zwei Minuten sind. Dafür ist die Geschichtenbox da. Ich kann mir online eine Geschichte aussuchen, die Altersstufe eingeben und wie lange sie dauern soll. Ich muss mir nicht einmal eine Geschichte ausdenken. Das hält viele Erwachsene vom Erzählen ab. Sie haben Angst, dass ihre Geschichte nicht spannend ist.

Ihre Geschichten sind online verfügbar. Finden Sie als Erzähler die Internet-Kommunikation nicht furchtbar?
Nein. Ich bin auch gegen den Vorwurf, dass Jugendliche heute nicht mehr lesen. Sie lesen und schreiben viel mehr, als die Generation vor ihnen. Es sind E-Mails oder SMS. Klar, es ist eine verknappte Sprache, aber das ist nicht negativ. Kinder- und Jugendliche sprechen heute anders. In den nächsten fünf Jahren wird sich noch viel verändern.

Der Erzähler

Folke Tegetthoff wurde 1954 in Graz geboren und stammt aus der Familie des österreichischen Admirals Wilhelm von Tegetthoff. Der studierte Mediziner und Pädagoge lebt mit seiner Frau und vier Kindern in der Steiermark.

Seine Werke

1979 kam sein erstes Buch „Der schöne Drache“ auf den Markt. Bis heute erschienen 40 Bücher. Sie wurden in 12 Sprachen übersetzt und haben sich 1,4 Millionen Mal verkauft. Tegetthoff engagiert sich für mehr Lesekompetenz, Vorlesen und Erzählen. Seit 2007 organisiert er jährlich Europas größtes Erzählkunstfestival „fabelhaft!NIEDERÖSTERREICH“. Zuletzt rief er die Internetplattform geschichtenbox.com ins Leben.

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