Damit Erinnerungen nicht verloren gehen
"I håb a Hirn wia a Seicherl (Sieb, Anm.)", ist so eine Art Glaubenssatz der Österreicher. Das meint die professionelle Erzählerin Karin Tscholl, alias "Frau Wolle" aus Tirol, die aus dem Gedächtnis 180 Geschichten frei erzählen kann, die Hälfte dauert immerhin 30 Minuten. Den Sieb-Satz solle man schnell hinter sich lassen. Begründung: "Als Erzählerin weiß ich, dass Geschichten, die immer wieder erzählt werden, Kraft entwickeln. Und wenn ich mir immer wieder vorsage, dass ich mir nichts merken kann, dann hat das enorme Kraft."
Indirekt bestätigt Tscholl den Befund der Forscherin, schließlich ist das Schöpfen aus einem riesigen Repertoire an Geschichten quasi ein Alleinstellungsmerkmal. "In Irland ist das ganz anders, dort hält sich jeder für einen Erzähler". Ihre Theorie, warum wir uns nichts mehr erzählen und daher auch nichts mehr merken müssen, hat mit der jüngeren österreichischen Geschichte zu tun. "Die Generation, die das Dritte Reich erlebt hat, hat später nur sehr wenig erzählt, aus bestimmten Gründen, aber damit ist auch die Tradition des freien Erzählens abgeschnitten worden. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die auf Schriftlichkeit ausgelegt ist, die nur das, was schwarz auf weiß existiert, als gültig und wahr erachtet. " Hänger habe sie nie, "aber ich mache auch nichts anderes".
Genügt es also, auf ein Thema fokussiert zu sein, um es sich gut einzuprägen? Eher nein, am besten merke sie sich Stoffe, die sie berühren, "das ist ein klarer Filter: Was mich kalt lässt, was für mich keine Bedeutung hat, das erzähle ich nicht". Frau Wolle wählt ihre Texte aus, ein Schüler muss sich oft mit Sachverhalten auseinandersetzen, die ihn langweilen. "Es gibt keine Menschen, die sich nichts merken, außer sie haben Demenz. In jedem Leben gibt es etwas Interessantes, man muss es nur suchen."
Info: http://von-mund-zu-ohr.at - Website mündlicher Erzähler in Österreich und Südtirol
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