"Weniger Zucker heißt noch lange nicht weniger Kalorien"
In Zeiten, in denen ein perfekter Körper zum Statussymbol Nummer eins hochstilisiert wird, haben sich die Lebensmittelmacher und Händler auf einen neuen Feind eingeschossen: den Zucker. Oder besser gesagt, sie versuchen mithilfe des Zuckers Sympathiepunkte und damit Geschäft zu machen: Indem sie versuchen, ihn sukzessive aus Lebensmittelverpackungen zu streichen und dann mit Zucker-Reduktion zu werben. Gerne ganz plastisch mit einem Berg von Zucker, der vermeintlich eingespart wurde.
Aus Sicht von Johann Marihart, Generaldirektor des österreichischen Zuckerriesen Agrana, ist das freilich eine bittere Entwicklung. „Weniger Zucker heißt noch lange nicht weniger Kalorien“, ärgert er sich über den „unverantwortlichen Aktionismus“, der für Konsumenten obendrein irreführend sei. Im Fokus sollte doch nicht der Zucker stehen, sondern die Kalorien, so sein Standpunkt. Marihart untermauert das mit einer Reihe von Produktbeispielen.
So stellt eine Handelskette einen um 30 Prozent Zucker-reduzierten Schoko-Pudding in die Auslage. Dieser enthalte aber nur um sechs Prozent weniger Kalorien, rechnet Marihart vor. Butterkekse, die mit „30 Prozent weniger Zucker“ beworben werden, würden letztlich nur um 4,4 Prozent weniger Kalorien enthalten. Haselnuss-Schnitten mit 46 Prozent weniger Zucker beinhalten letztlich nur zwei Prozent weniger Kalorien. Und so weiter und so fort. Die Liste ließe sich endlos lange fortsetzen.
Ruf zur Versachlichung
Marihart fordert daher vehement und nicht zum ersten Mal eine Versachlichung der aktuellen Gesundheitsdebatte. „Kampagnen, die allein den Zucker ins Visier nehmen, bewirken – positiv formuliert – überhaupt nichts“, sagt er. Letztlich sei nicht der Zucker, sondern die Energiebilanz für ein mögliches Übergewicht verantwortlich. Sprich: Was zählt, ist der Lebensstil, also auch, wie viel man sich bewegt. Oder anders formuliert – ob der Energiehaushalt passt. Laut Jürgen König, Ernährungswissenschaftler von der Uni Wien, wissen aber nur vier von zehn Österreichern überhaupt, was mit Energiehaushalt gemeint ist (Differenz zwischen Kalorienaufnahme und Kalorienverbrauch). Laut einer market-Umfrage mit 500 Teilnehmern achtet nur ein knappes Drittel beim Essen bewusst auf den Kaloriengehalt.
Wenig Aussagekraft
Demgegenüber stehen unzählige Ernährungsstudien, deren Aussagekraft selbst König etwas relativiert. Langjährige, umfassende Erhebungen, in denen man Personengruppen, die sich normal ernähren, mit jenen vergleicht, die besonders viel Zucker zu sich nehmen, sind ein seltener Luxus. König: „Sie scheitern schlicht an der Finanzierung.“
Selbst Langzeitstudien hätten oft Schönheitsfehler. Etwa, dass sie über zehn bis 15 Jahre laufen, das Ernährungsverhalten der Probanden aber nur einmal erhoben wird, obwohl sich dieses im Laufe der Jahre auch oft ändern kann. König: „Was Menschen essen, kann in Wirklichkeit nur sehr schwer erhoben werden.“
„Nicht schönreden“
Der Ernährungswissenschaftler „will den Zucker nicht schönreden“. Aber man müsse aufpassen, dass man die richtigen Schlüsse ziehe. „Ihn zu reduzieren ist sinnvoll, aber nicht nur Zucker allein. Wir sollten von allem weniger essen. Da gehören Fett, alkoholische Getränke und Fleisch dazu, dann ist das durchaus sinnvoll“, so König. Antizuckerkampagnen würden so letztendlich einen falschen Fokus setzen.
Den Vorwurf, dass die Industrie Konsumenten immer mehr Zucker unterjubelt, etwa in Fertigprodukten, kann er nicht nachvollziehen. „Wieso? Es kann doch jeder auf der Packung nachlesen, wie viel Zucker im Produkt steckt.“ Zudem gibt er zu bedenken, dass Zucker einer von vielen Energieträgern ist. Reduziert ein Produzent den Zuckergehalt in einem Produkt, muss er zu einem anderen Energieträger greifen. Etwa Fett, das noch mehr Kalorien hat als Zucker, so König.
Konsum sinkt
Tatsächlich ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker in Österreich in den vergangenen zwanzig Jahren pro Kopf von 41 auf rund 33 Kilogramm gesunken. Damit könne er nicht schuld an den aktuellen Figurproblemen sein, argumentieren Branchenvertreter gebetsmühlenartig.
Weltweit steigt der Verbrauch aber Jahr für Jahr um ein bis zwei Prozent. „Das entspricht in etwa dem globalen Bevölkerungswachstum“, relativiert Marihart und beziffert den weltweiten Verbrauch mit 180 Millionen Tonnen im Jahr.
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