Weihnachtsvöllerei: "Manche essen zu viel, um sich zu betäuben"
Bratwürstel zu Heiligabend, Raclette zu Silvester, Kekse zwischendurch: In der Weihnachtszeit wird ordentlich geschlemmt. Wann die Völlerei zum Problem wird, was die Ursachen sind und wie man sie überwindet, erklärt die Ernährungstherapeutin und Diätologin Isabel Bersenkowitsch im KURIER-Interview.
KURIER: Jeder Mensch isst gerne gut. Aber zu Weihnachten isst man oft so viel, dass man sich kaum noch rühren kann. Warum eskaliert das zu Weihnachten immer?
Bersenkowitsch: Einerseits heben sich viele das große Schlemmen für die Feiertage auf, vor allem für Weihnachten oder Silvester. Sie schränken sich vorher ein und versuchen, weniger zu essen, um sich dann richtig überessen zu können. Andererseits ist es auch einfach etwas sehr Schönes, mit der Familie am Tisch zu sitzen und Gerichte zu essen, die man oft noch aus der Kindheit kennt.
Viele werden sich jetzt denken: Weihnachten ist auch wirklich nicht die Zeit für Regeln ...
Weihnachten ist definitiv nicht die Zeit für Regeln, aber jede andere Zeit auch nicht, und das ist der Punkt. Wenn man schon vorher dazu neigt, sehr stark nach Regeln zu leben und dann zu Weihnachten diese Regeln aufhebt, dann kann das ein wichtiger Grund sein, dass man sich total überisst. Weil das sozusagen "erlaubt" ist und man diese seltene Zeit ausnutzen will, wo man sich alles gönnt, was man möchte.
Ist das denn überhaupt ein Problem?
Es kommt immer darauf an, warum zu viel gegessen wird. Es gibt mehrere Gründe. Manche essen tatsächlich zu viel, um sich zu betäuben, weil es eine beruhigende Wirkung auf den Körper hat. Manche denken auch, wenn sie das Essen nicht unter Kontrolle haben, bedeutet das, dass sie ihr Leben nicht unter Kontrolle haben. Ansonsten kann es sein, dass sich der Stoffwechsel erhöht, wenn man zu viel isst. Oder dass einfach alles gespeichert wird, was zu viel für den Körper ist.
Sich selbst betäuben - das müssen Sie erklären.
Auf neurobiologischer Ebene wird Stress auch über den Sympathikus (Teil des Nervensystems, Anm.) reguliert. Wenn man zu viel isst, wird der Sympathikus betäubt, das heißt, es ist keine Entspannung, sondern eine Ruhigstellung auf neurobiologischer Ebene. Was man erlebt, ist, dass man sich nicht mehr wirklich bewegen kann oder dass alles ein bisschen ruhiger um einen herum wird.
Was sind weitere mögliche Gründe fürs Überessen?
Der erste Grund ist, wie eben schon angesprochen, dass vorher zu wenig oder zu unregelmäßig gegessen wird. Zu Weihnachten haben viele das Abendessen im Kopf und fasten dafür den ganzen Tag. Wenn es dann soweit ist, ist man richtig ausgehungert.
Der zweite Grund ist, dass man Essen in gut und schlecht einteilt, in gesund und ungesund. Das führt dazu, dass man eine Zeit lang nichts davon isst und sich eine riesige Spannung aufbaut. Das Lebensmittel hat eine richtige Magie und Anziehungskraft für uns, also dass es einen beim emotionalen Essen entspannt. Und weil es so lange verboten war, kommt man schnell ins Pendel der Extreme.
- Der dritte Grund ist, dass man mit Ablenkung isst. Auch das ist am Weihnachtstisch der Fall. Wir wissen, dass wir in Gesellschaft mehr essen, weil wir uns nur auf eine Sache konzentrieren können. Oft merkt man erst hinterher, wie satt man eigentlich ist.
- Der vierte Grund ist, dass mit Essen Emotionen verarbeitet werden. Da sind wir wieder bei der Betäubung. Es kann aber auch Belohnung oder Bestrafung sein. Also dass man sich mit Dingen nicht auseinandersetzen will, sondern sie lieber - im wahrsten Sinne des Wortes - herunterschluckt und dann einfach sehr große Mengen isst. Da hat man auch oft dieses Gefühl des Kontrollverlustes beim emotionalen Essen.
- Der fünfte Grund ist der Mangel an Nährstoffen. Oft ist es in der westlichen Kultur zum Beispiel so, dass Ballaststoffe in der Nahrung fehlen. Wenn diese Magenfüller nicht da sind, kann es sein, dass man das Sättigungsgefühl, das eigentlich nur dieser eine Nährstoff geben würde, immer weiter sucht und man sich dann total überisst.
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Hat dieses Überessen dann noch überhaupt etwas mit Genießen zu tun?
Vielleicht nicht im klassischen Sinne des Genießens, sondern eher im Sinne der Autonomie. Man genießt es, dass es keine Regeln gibt und dass man alles essen kann, was sonst „verboten“ ist. In diesem Sinne kann es eine Art Genuss sein.
Wie kann man Überessen überwinden?
Zuerst muss man die Ursache finden und dann an der Ursache arbeiten. Das kann natürlich sehr komplex sein, deshalb bieten wir auch Informationsveranstaltungen dazu an. Wenn es zu schwierig ist - gerade weil Essen und Körperbild ein sehr komplexes Thema ist - sollte man sich auf jeden Fall Hilfe holen, denn man muss nicht alles alleine schaffen.
Sie sprechen bei Veranstaltungen auch von "Selbstbewusstsein am Familientisch": Was ist damit gemeint?
Dass Menschen auf ihre eigenen Grenzen achten und verstehen, dass sie diese setzen dürfen. Dass sie es nicht hinnehmen müssen, wenn ihr Körper oder ihr Essverhalten kommentiert wird. Sie können zum Beispiel verbal Grenzen setzen, das Gespräch verlassen oder sich Verbündete suchen.
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Ein weiterer Punkt von Ihnen lautet "intuitiv durch die Weihnachtszeit". Was ist damit gemeint?
Intuitiv heißt, dass man sehr stark auf sich und seine Bedürfnisse achtet. Wenn es zum Beispiel um das Thema Kekse geht, dass man sich die auch wirklich gönnt und nicht den ganzen Tag überlegt, ob man die jetzt essen darf. Nur um dann einen Weihnachtsabend zu erleben, wo man auf einmal ganz viele auf einmal in sich reinstopft. Wenn man dazu neigt, emotional zu essen, kann man sich z.B. fragen: Fehlt es mir vielleicht an Anregung? Brauche ich mehr Bewegung, mehr soziale Kontakte oder kreative Anregungen?
Das "Food Freedom Program" veranstaltet am Sonntag, 17. Dezember 2023 ein kostenloses Webinar "Überessen überwinden".
Den Link zur Anmeldung finden Sie hier.
Wenn es dann doch passiert ist und man sich beim Weihnachtsessen total übernommen hat: Was kann man tun?
Wenn es passiert, dass man sich überisst, ist es wichtig, trotzdem freundlich zu sich selbst zu bleiben. Nicht in Selbstkritik und Selbstverurteilung zu verfallen, denn genau das kann dazu führen, dass man dann noch viel mehr essen muss, um die negativen Folgegefühle zu regulieren. Auf der einen Seite ist also Selbstmitgefühl sehr wichtig. Auf der anderen Seite kann man - immer neugierig und nicht wertend - versuchen, die Ursachen für den Essanfall zu finden. Denn Fakt ist, wenn der körperliche Hunger nicht die Ursache war, dann liegt die Ursache woanders und die kann man finden und an der kann man arbeiten.
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Und was sollte man vermeiden?
Dann wieder weniger essen, also Kompensationsversuche indem man z.B. ganzen nächsten Tag nichts isst, weil man so wieder in diese Pendelbewegung der Extreme kommt. Man sollte auch nicht versuchen, es mit Sport wegzutrainieren. Hilfreich kann alles sein, was Selbstfürsorge ist. Also schöne Dinge für sich selbst tun und mit Neugier versuchen, das Thema ursächlich zu lösen.
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