Waschgang für die Seele: Weshalb Tränen wichtig sind
In dem autobiografischen, posthum erschienenen Roman „Mars“ von Fritz Zorn findet sich folgende berührende Passage: „Obwohl ich noch nicht wusste, dass ich Krebs hatte, stellte ich intuitiv die Diagnose, denn ich betrachtete den Tumor als ‚verschluckte Tränen‘. Das bedeutet etwa soviel, wie wenn alle Tränen, die ich in meinem Leben nicht geweint hatte und nicht hatte weinen wollen, sich in meinem Hals angesammelt und diesen Tumor gebildet hätten, weil ihre wahre Bestimmung, nämlich geweint zu werden, sich nicht erfüllen konnte.“
Fritz Zorn, später zum Schweizer Kultautor erhoben, starb 1976 mit nur 32 Jahren. Selten hat ein Autor so persönlich über das sensible Thema Weinen und Tränen geschrieben.
Noch dazu als Mann, noch dazu in einer Zeit, als man Jungs mit dem akkuraten Satz „Du bist doch ein großer Bub. Der weint nicht“ jeglichen Anflug einer Gefühlsregung zu verbieten suchte. Bei Mädchen wiederum hatten Erwachsene schnell die Floskel von der „Heulsuse“ im Mund. Statements wie diese waren früher nicht selten. Heute wissen wir es besser.
Weinen ist wichtig, muss sein, darf sein, „denn Tränen sind immer eine physische Reaktion auf eine Emotion. Man darf und soll sie zulassen, denn sie bringen in der jeweiligen Situation Erleichterung. Oft geht damit das gute Gefühl einher, als ob sich ein Knoten löst. Das Problem, das zu Tränen gerührt hat, mag in den meisten Fällen zwar nicht gelöst sein, doch die Sitzungen laufen meiner Erfahrung nach entspannter ab“, sagt Karin Eder.
Als klinischer Psychologin sind Karin Eder Tränen wohlvertraut und die Taschentuchbox in ihrer Wiener Praxis ein viel genutztes Utensil. In den geschützten Räumen der Fachärztin weint es sich freilich unbeschwerter, auch Männer tun sich da leichter. Karin Eder: „Generell denke ich, dass Weinen, wie überhaupt Gefühle zu zeigen, heute gesellschaftlich akzeptierter ist.“
Tränen in der Öffentlichkeit? Kein Tabu mehr. Bisweilen wird Weinen sogar kollektiv zelebriert. Man denke nur an das Fußball-WM-Finale 2018 zwischen Frankreich und Kroatien als Abertausende Fans regelrecht in einen gruppendynamischen Weinkrampf verfielen. Die einen, weil ihre Mannschaft gewonnen, die anderen, weil ihr Team verloren hat. Da wie dort kullerten auf den Tribünen die Tränen. Als bei der Siegerehrung auch noch sintflutartig Regenfälle einsetzten, konnte sich kaum einer der sonst so smarten Sportmoderatoren den Satz verkneifen: „Und der Himmel weint mit.“
Tränen sind immer eine physische Reaktion auf eine Emotion. Man darf und soll sie zulassen, denn sie bringen in der jeweiligen Situation Erleichterung. Oft geht damit das Gefühl einher, als ob sich ein Knoten löst.“
Tränen waschen Staub aus
Weshalb der Himmel weint, das können uns Metrologen recht genau erklären. Aber warum uns Menschen plötzlich Tränen herunterrollen, ist nicht ganz klar. Seit der Zeit der Nubier, Ägypter und Römer versucht der Mensch dem Geheimnis der Tränen auf die Spur zu kommen. Oder man denke an die griechischen Epen, in denen geradezu hemmungslos geschluchzt wurde.
Einer der Ersten, der eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage ‚Warum weinen Menschen?‘ suchte, war Charles Darwin. „Tränen waschen Staub aus und halten die Augen feucht, vielleicht auch die Nasenlöcher“, schrieb er in seinem Werk „Der Ausdruck von Emotionen bei Menschen und Tieren“. Andere Wissenschaftler hielten Tränen für ein Zeichen der Kapitulation vor siegreichen Gegnern. Natürlich hat sich auch eine Kapazität wie Sigmund Freud damit beschäftigt. Sein Fazit: „Weinen reinigt die Psyche, so wie Niere und Leber das Blut sauber halten.“
Dakryologie, die Tränenkunde
Ähnlich sehen das Forscher unserer Zeit, die meinen, Tränen würden dazu dienen, chemische Substanzen aus dem Körper zu eliminieren, die durch Stress, Trauer, Schmerz oder Wut entstanden sind. Ein Wissenschaftler, der sich seit 20 Jahren der Dakryologie, der Tränenkunde, widmet, ist der Psychologe Ad Vingerhoets von der niederländischen Universität Tilburg. Für ihn sind „Tränen ein starkes Signal der Kommunikation“, um Mitgefühl zu erzeugen oder um zu zeigen, dass man Hilfe braucht.
Tränen - ein chemischer Cocktail
Den Tränen auf die Spur gegangen sind auch Forscher am Ramsey Medical Center, indem sie 200 Männer und Frauen unter den unterschiedlichen Bedingungen weinen ließen – beim Zwiebelschneiden, vor dem Bildschirm, als Ingrid Bergmann in „Casablanca“ endgültig von Humphrey Bogart Abschied nimmt, aus Wut, aus Trauer und in etlichen anderen Situationen.
Während der Versuche haben Wissenschaftler akribisch jede einzelne geweinte Träne – jede lediglich 15 Milligramm schwer – gesammelt und anschließend ins Labor zur chemischen Analyse gebracht. Dort wurde die Tränenflüssigkeit mithilfe der Hochdrucksflüssigkeits-Cromatografie in ihre molekularen Strukturen zerlegt. Dabei haben die Forscher drei interessante Stoffe entdeckt: Leuzin-Eknophalin, Lysozyme und Prolactin.
Leuzin-E, dem Morphium nicht unähnlich, wird vom Körper in Schmerzsituationen selbst produziert. Lysozyme sind antibakterielle Enzyme, die der Infektionsabwehr dienen. Prolactin wiederum ist ein Hormon, das die Bildung von Muttermilch anregt, hat aber auch eine Menge psychologischer Wirkungen.
Wenngleich die vollkommene Erforschung der Stoffe noch offen ist, so ist eines klar. Tränen sind ein komplexer chemischer Cocktail, egal ob sie aus Trauer, Ärger, Wut oder Freude entstehen. Wichtig ist, dass man sich ihrer nicht schämt oder um es zeitgeistiger zu sagen: „Lass sie einfach raus, Baby, es hilft!“
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