Warum Sexualität und Krebs kein Tabuthema sein soll
Erst einmal ist es der Diagnoseschock, der das Selbstbild vieler Patientinnen und Patienten ins Wanken bringt. Wer zuvor als vital, selbstbewusst und vielleicht sogar dominant galt, kann verstärkt auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Das wirkt sich auch auf die Rollenverteilung in der Partnerschaft aus. „Durch die Diagnose Krebs gerät das psychosoziale Gleichgewicht eines Menschen durcheinander. Zu einer veränderten Situation in Beruf und Privatleben kommen Beeinträchtigungen auf körperlicher Ebene. All das, was die sexuelle Gesundheit aufrechterhält, wird erschüttert“, weiß Elia Bragagna, die für die sexualmedizinische Basisausbildung von Ärztinnen und Ärzten unter anderem im onkologischen Bereich zuständig ist.
Thematisieren
In der ersten Zeit der Behandlung treten sexuelle Bedürfnisse meist in den Hintergrund. Wichtig werden Fragen der Existenz und der Auseinandersetzung mit der Erkrankung.
Auch wenn alle Kräfte für die Bekämpfung des Krebses beansprucht werden, sollten Medizinerinnen und Mediziner mögliche Auswirkungen auf das Sexualleben thematisieren, rät Bragagna. Oft werde man überhaupt erst durch eine sexuelle Dysfunktion auf die Krebserkrankung aufmerksam: „Ein Prostatakarzinom kann Erektionsstörungen beim Mann verursachen, ein in der Wirbelsäule sitzender Tumor für die Sexualfunktion wichtige Nerven beeinträchtigen und ein Hirntumor hemmend auf die Libido einwirken.“
Der Körper verändert sich
Durch die Erkrankung, aber auch die Therapie kann sich der Körper vorübergehend oder dauerhaft verändern. Bleibt dies unausgesprochen, so kann es zu schwerwiegenden psychischen Belastungen kommen, die mitunter auch den Heilungsverlauf beeinflussen. „Der Fokus der Onkologie liegt nach wie vor stark auf dem Überleben der Patientinnen und Patienten. Für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten ist die sexuelle Gesundheit allerdings eine wichtige Ressource, um sich lebendig zu fühlen“, sagt Daniela Dörfler, die als Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe die Unit für Sexualmedizin am Comprehensive Cancer Center in Wien koordiniert.
Bei der chirurgischen Entfernung von Tumoren im Bereich der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane sind oft Empfindungsstörungen von sensiblen Nervenbahnen die Folge. „Nahe der Prostatadrüse liegen Nerven, über die die Erektion gesteuert wird. Man versucht, hier möglichst schonend vorzugehen. Nach der Entfernung eines Prostatakarzinoms ist es manchen Patienten aber über Wochen nicht möglich, eine Erektion zu erlangen“, so Dörfler.
Bei Eingriffen im Bereich des Gebärmutterhalses, der Eierstöcke oder der Scheide kann es zu Schmerzen und Blutungen sowie zu Verwachsungen kommen, die den Sexualverkehr ebenfalls stark einschränken. „Nicht zuletzt hat auch das Entfernen von Brustgewebe, der Haarverlust infolge einer Chemotherapie oder die Narbenbildung nach einer Darmkrebsoperation Auswirkungen auf das Körpergefühl eines Menschen“, sagt die Wiener Sexualmedizinerin Bragagna.
Müdigkeit & Libidoverlust
Ein verständnisvoller Umgang des Sexualpartners oder der Sexualpartnerin ist besonders wichtig. So kann das Lustempfinden nach der Diagnose und während der Therapie stark nachlassen. Eine der häufigsten Nebenwirkungen der Krebstherapie – die fast immer mit einem Libidoverlust einhergeht – ist die Fatigue, ein chronisches Gefühl der Müdigkeit. „Manchen Betroffenen tut es gut, in dieser Zeit die körperliche Nähe und Zärtlichkeit des Partners zu spüren. Andere hingegen wollen nicht berührt werden und gehen lieber auf Distanz“, so Bragagna.
Neben sichtbaren körperlichen Einschränkungen nehmen hormonelle Medikamente Einfluss auf die Sexualität. Frauen mit Mammakarzinom oder einem Unterleibskrebs werden in einen vorzeitigen Wechsel versetzt, um das Tumorwachstum einzudämmen. „Folglich erleben Betroffene dieselben Beschwerden wie in der Menopause – nämlich Wallungen, Lustlosigkeit und Stimmungsschwankungen“, erklärt Frauenärztin Daniela Dörfler. Sogenannte Hormonblocker kommen aber auch beim Mann zum Einsatz und können den natürlichen Sexualdrang eine Zeit lang ausschalten.
Nebenwirkungen
Darüber hinaus haben Bestrahlung und Chemotherapie unangenehme Nebenwirkungen, die mal mehr mal weniger stark ausfallen. Bei der Frau kann es zu Scheidentrockenheit und zum vermehrten Auftreten von Pilzerkrankungen in der Scheide kommen. „Nach einer Chemotherapie ist der gesamte Körper sehr berührungsempfindlich“, erläutert Dörfler. „Unabhängig vom Geschlecht treten Neuropathien sehr häufig auf.“ Darunter leidet nicht selten auch die Beziehung zum Partner. Die Angst, nicht mehr dieselbe Funktionsfähigkeit mitzubringen, hindert viele Menschen daran, körperliche Nähe zuzulassen.
Nach einer Strahlentherapie in der Beckengegend stellen sich zudem oft schmerzhafte Entzündungen ein, die den Gedanken an Sex vollständig verdrängen. „Lange Zeit war Sexualität bei Krebspatientinnen ein Tabuthema“, schildert Kathrin Kirchheiner von der Universitätsklinik für Strahlentherapie an der MedUni Wien, „aber neue Forschungsergebnisse und moderne Bestrahlungsmethoden erlauben es den Frauen, auch nach der Therapie wieder an eine erfüllte Sexualität zu denken.“
Onkologische Nachsorge
Da Krebserkrankungen zunehmend besser behandelbar werden, rückt der Stellenwert der onkologischen Nachsorge in den Mittelpunkt. „Dabei sollte auch die sexualmedizinische Betreuung eine Rolle spielen“, fordert Elia Bragagna und fügt an: „Für viele Patientinnen und Patienten ist es ein völlig neues Kennenlernen ihres Körpers nach solch einer schwerwiegenden Erkrankung.“
Eine professionelle Begleitung kann den Betroffenen in dieser Zeit helfen, mit körperlichen, aber auch seelischen Veränderungen umzugehen – und gemeinsam mit dem Partner oder der Partnerin alte und neue Formen der sexuellen Erfüllung zu finden.
Für Daniela Dörfler ist klar: „Je intensiver die rehabilitative Unterstützung, umso eher gesunden die Patientinnen und Patienten und finden zurück in ein normales Leben.“
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