Bedenkliche Entwicklung: Risiken in digitalen Räumen sind für Kinder längst normal
Mit acht Jahren klettern Kinder auf Bäume, spielen Fußball, interessieren sich für Mode oder wissenschaftliche Experimente. Nicht selten sind sie auch schon im Internet unterwegs, surfen auf Plattformen wie Tiktok, Snapchat und Instagram – und sammeln dort keineswegs nur positive Erfahrungen.
Für Kinder gehören digitale Gefahren zur Nutzung dazu
Dass digitale Räume für Kinder und Jugendliche gefährlich sein können, belegen inzwischen zahlreiche Studien. Wie groß der Aufholbedarf beim Schutz der Jüngsten ist, untermauert auch der neu erschienene VOICE Report (Values, Options and Insights from Children about E-Safety), eine Studie der Menschenrechtsorganisation ECPAT. Herzstück sind Befragungen von knapp 500 Kindern zwischen zwölf und 17 Jahren zu ihrem digitalen Sicherheitsempfinden. Durchgeführt wurden sie in 15 Ländern, darunter auch Österreich. Zu Wort kommen außerdem 6.000 Eltern und Betreuungspersonen.
Ein Kernergebnis: Kinder sind sich der vielfältigen Online-Risiken bewusst, nehmen sie aber in Kauf. So gibt etwa fast die Hälfte an, sich im Internet sicher zu fühlen. Gleichzeitig zeigen sich Kinder besorgt darüber, dass sie unangemessenen Inhalten ausgesetzt sind. Ein Beleg dafür, dass Kinder Gewalt im Netz inzwischen als normal und unumgänglich empfinden.
Kinder schätzen vieles, was ihnen das Internet bietet: Unterhaltung, Ablenkung, Inspirationsquellen und Kontaktmöglichkeiten mit Freundinnen und Freunden. Mit Hass-Kommentaren, Mobbing, unerwünschten Schönheitsidealen, Werbung und dem Suchtfaktor, den das Smartphone mich sich bringt, finden sie sich ab. Schlimmstenfalls sogar mit Kontaktaufnahmen mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung.
Meldungen zu sexuellem Missbrauch im Netz steigen in alarmierendem Ausmaß
Sexueller Missbrauch nimmt im Netz viele Formen an, weiß Waltraud Gugerbauer, Geschäftsführerin von ECPAT Österreich. "Und das Ausmaß nimmt in gravierender Weise zu." Allein in den ersten Monaten dieses Jahres hat Stopline, die österreichische Meldestelle für sexuelle Missbrauchsdarstellungen, über 7.000 Meldungen diesbezüglich erhalten. Das macht schon jetzt weit mehr als die Hälfte der gesamten Meldungen des Jahres 2023 aus. "Trotz dieser alarmierenden Zahlen werden keine regulatorischen Schritte gesetzt, um diese Entwicklungen zurückzudrängen", sagt Gugerbauer und appelliert an Regierungen wie Betreiber digitaler Plattformen, ihre Verantwortung wahrzunehmen und entsprechende Maßnahmen durchzusetzen. Umfassende Bildungsprogramme zur Online-Sicherheit etwa, kinderfreundliche Funktionen auf Online-Plattformen, Tools zur Altersüberprüfung oder Pop-up-Warnungen.
Dass es solche Maßnahmen braucht, sehen auch Kinder und Eltern so: Laut Studie fühlen sie sich mit ihren Sicherheitsbedenken alleine gelassen. "Mangels konkreter Unterstützung verlassen sich Kinder beim Surfen im Internet auf ihren Instinkt, was die Gefahr missbräuchlicher Angriffe erhöht", fasst VOICE-Studienleiterin Eva Notté zusammen.
Vertrauen legt offener Kommunikation die Rutsche
Die Studie legt ein weiteres Problem offen: 90 Prozent der Eltern glauben, dass ihre Kinder offen mit ihnen über verstörende Erlebnisse im Internet sprechen. Das Gros der Kinder gibt das Gegenteil an: Eltern oder Betreuungspersonen wird nur in Extremfällen von belastenden Vorfällen oder Übergriffen berichtet. Aus Angst vor Konsequenzen statt Verständnis, einem Handy-Verbot etwa, oder Scham. "Diese Erkenntnis ist ein Auftrag an uns alle, mit Kindern über das Thema Online-Sicherheit ins Gespräch zu kommen", betont Gugerbauer.
Wie kann das gelingen? Eltern sollten als gute Vorbilder vorangehen, sagt Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez, Koordinatorin des Netzwerks Kinderrechte, die für den VOICE Report Kinder und Jugendliche in drei Schulen hierzulande befragt hat. Das betreffe beispielsweise die Nutzungsdauer, aber auch den eigenen Umgang mit dubiosen Situationen. "Eine Idee wäre, gemeinsam die Zeit, die man vorm Smartphone verbringt, zu monitoren – und sich Pausen aufzuerlegen, die für Eltern gleichermaßen gelten." Von Belehrungen und Zurechtweisungen rät sie ab. Es gelte „wohlwollend miteinander umzugehen, um Lösungen zu finden“. Denn nur, "wenn eine vertrauensvolle Beziehung besteht, werden sich die Kinder in beängstigenden Situationen öffnen".
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