Birgit Mazurek: Wir haben heute gute, etablierte Behandlungsmöglichkeiten. Man muss zunächst ein akutes von einem chronischen Ohrgeräusch unterscheiden. Der massive Leidensdruck tritt hauptsächlich beim chronischen auf, weil hier Folgeerkrankungen eine Rolle spielen, zum Beispiel Depressionen oder Angsterkrankungen. Obwohl man das Ohrgeräusch im chronischen Stadium nicht heilen kann, gibt es eine Behandlung, die die Lebensqualität erhöht.
Was umfasst die Therapie?
Sie fußt auf vier Säulen: der psychosozialen Beratung, der Versorgung mit Hörgeräten sowie Hörtrainings bei Hörverlust, verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und Selbsthilfe. Wenn es Folgeerkrankungen wie beispielsweise die Depression gibt, dann sollten die auch entsprechend behandelt werden.
Und das akute Ohrgeräusch?
Im Akutstadium wird eine durchblutungsfördernde Therapie mit Kortison angestrebt: Oral, als Infusion oder intratympanal, also im Ohr. Je schneller das passiert, umso besser. Das Zeitfenster ist kurz: Ab drei Monaten gilt Tinnitus als chronifiziert.
Tinnitus ist der lateinische Begriff für Klingeln: Was sind die Symptome?
Die sind ganz unterschiedlich. Tinnitus heißt eigentlich, dass man ein Geräusch wahrnimmt, dass nicht durch einen externen Reiz verursacht wird.
Man hört also Dinge, die gar nicht da sind und auch nicht messbar sind?
Genau, das ist ein subjektives Ohrgeräusch, da nur der Patient oder die Patientin wahrnimmt. Das kann ein Summen sein, ein Klingeln, ein Pulsieren, ein Klopfen, ein Hämmern. Einseitig, beidseitig oder im Kopf.
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Kürzlich wurde eine Studie zu einer Lasertherapie fürs Innenohr veröffentlicht. Was halten Sie davon?
Nichts. Das ist nicht sinnvoll. Natürlich ploppen immer wieder neue Ansätze auf. Für die gibt es aber noch keine ausreichenden Wirksamkeitsbelege. Das gilt auch für Rauscher oder Noiser, die wie Hörgeräte getragen werden und einen Gegenton erzeugen. Oder Hausmittel, wie Ginkgo oder Ingwer, die angeblich helfen sollen. Da geht es um Geldmacherei.
Wohin geht die Reise in der Tinnitus-Medizin dann?
In Richtung personalisierte Medizin und verbesserter Diagnostik und Therapie. Nicht jeder Tinnitus ist gleich. Ein Ansatz ist deshalb etwa das Analysieren von Phänotypen, also Untergruppen bei Tinnitus und eine danach ausgerichtete Behandlung.
Wo liegen die Ursachen?
Sehr häufig sind die Hörschnecke und dortige Schädigungen oder Veränderungen der inneren und äußeren Haarzellen relevant. Das führt zu einer verstärkten Ausschüttung von Botenstoffen, die im Gehirn als Mehraktivität wahrgenommen und als Tinnitus abgespeichert werden. Der Leidensdruck entsteht dadurch, dass andere Netzwerke im Hirn tangiert werden, zum Beispiel das Limbische System. Dieses Gefühlssystem regelt, wie belastend der Tinnitus für einen ist.
Wie passieren die Schädigungen?
Zum Beispiel durch einen Hörsturz, oder bei Lärmschwerhörigkeit nach einem lauten Konzert oder einer Mittelohrentzündung. Auch Medikamente, Probleme mit der Halswirbelsäule und neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Hirntumore können eine Rolle spielen.
Unsere Welt wird immer lauter. Klingelt es heute öfter im Ohr als früher?
Es ist naheliegend: Die Menschen werden älter, die Lärmbelastung höher. Aber genaue Langzeitdaten für Vergleiche haben wir leider nicht. Die Betroffenen ziehen sich jedenfalls durch alle Altersklassen, von der Kindheit bis ins hohe Alter.
Indigene Stämme in Papua-Neuguinea kennen Studien zufolge keine Lärmschwerhörigkeit und auch keinen Tinnitus kennen. Liegt das daran, dass der Umgebungslärm bei uns einfach omnipräsenter ist?
Tinnitus gibt es grundsätzlich überall. Bei den besagten Studien ging es um das Hörvermögen. Wenn man weniger Umgebungslärm hat, ist das Hörvermögen im Alter in der Regel auch besser. Aber in diesen Naturstämmen treten auch andere Erkennungen seltener oder gar nicht auf, Diabetes oder Bluthochdruck zum Beispiel.
Was raten Sie präventiv?
Entspannung, auf die Ressourcen achten, sich nicht extremen Lärmquellen aussetzen, auf die Ohrgesundheit achten. Mit den Ohren geht man unbedarfter um, weil man den potenziell schädigenden Schall nicht sieht. Wir haben aber nur ein Paar Ohren. Wenn wir sie schädigen, treten Probleme auf, die uns womöglich für immer begleiten.
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